Lilli Steinbeck Bd. 1 - Die feine Nase der Lilli Steinbeck
Rucksack, auf den ein Blatt Papier geheftet worden war. Darauf stand in unsicheren, aber deutlich zu lesenden, großen Lettern:
GEH! UND GOTT MIT DIR
Sicherlich sollte es heißen: Und Gott sei mit dir. Aber Stransky mußte grinsen bei der Vorstellung, zusammen mit Gott weggeschickt zu werden.
Er öffnete den Rucksack, ein modernes Ding aus einem dieser Überlebensprogramme für Leute, die einfach nicht in der Lage waren, auf dem sicheren Wanderweg zu bleiben, und sich ständig und meistens auf recht kindische Weise in Gefahr brachten. Indem sie etwa Bachläufe an den ungeeignetsten Stellen überquerten, Berge über Wetterseiten ansteuerten, Lawinen und wilde Tiere provozierten und vor allem Reisen in Gegenden mit katastrophaler Infrastruktur unternahmen, als wäre nicht ein Marsch durch Tirol oder das Allgäu riskant genug.
Nun, in Tirol und im Allgäu benötigt man in der Regel keine Waffen. Eine solche aber zog Stransky aus dem Rucksack. Er hatte keine Ahnung von Instrumenten dieser Art und Bestimmung. Aber die Pistole schien neu und auf der Höhe der Zeit. Leichtmetall, Display, der Griff mit einem schweißmindernden Überzug, ein paar kleine Applikationen, darunter auch ein feuerzeuggroßes Taschenlämpchen. Das Gerät trug einen Namen in himmelblauer, geschwungener Schrift: Verlaine. Verlaine?! War das nicht der Typ, der Rimbaud angeschossen hatte? Ihn dabei verletzte, aber nicht tötete. Wie sonderbar, eine Pistole nach einem Schützen zu benennen, der schlußendlich versagt hatte.
Wie auch immer, das Faktum einer Waffe verunsicherte Stransky. Nach einigem Herumwerken stellte er fest, daß das Magazin gefüllt war, was er zwar auch vom Display hätte ablesen können, aber das war wie mit diesen Digitaluhren, bei denen man nicht wußte, ob sie jetzt den aktuellen Luftdruck oder die aktuelle Luftfeuchtigkeit angaben oder einen bloß an irgendeinen blöden Geburtstag zu erinnern versuchten. Von der Uhrzeit einmal abgesehen.
Jedenfalls verfügte Stransky nun über eine professionelle und einsatzfähige Waffe. Zudem enthielt der Rucksack ein Mehrzweckmesser, einen Kompaß, ein Tuch mit einem Mekka-Aufdruck, ein Buch, bei dem es sich wahrscheinlich um einen Koran in arabischer Sprache handelte (sehr praktisch), ein Bündel Dollarscheine, das von einem breiten Gummiband gehalten wurde, dazu eine Flasche mit Wasser, zwei Packungen Kekse sowie einen Behälter mit etwas Getrocknetem, das Stransky beim besten Willen nicht zu identifizieren verstand und es so rasch wieder wegschloß, als wollte er einen Geist am Ausbruch hindern. Was leider nicht zu finden war, war ein Handy.
Stransky steckte die Sachen zurück, die Waffe zuunterst. Und zwar im Bewußtsein, solcherart vernünftig zu handeln. Dann schulterte er den Rucksack. Er sah sich noch einmal um und erkannte am noch immer laufenden, noch immer tonlosen Bildschirm das Gesicht eines englischen Fußballstars, von dem es hieß, er würde demnächst zu einem französischen Traditionsclub wechseln. Stransky starrte noch ein wenig auf das Gesicht des lächelnden Engländers und verließ sodann den Raum und die Wohnung. Über ein enges, mit fingerdicken Luftlöchern ausgestattetes Treppenhaus gelangte er ins Freie.
7
In jedem Holländer steckt ein Finne
Okay, das war ganz eindeutig kein Versuchslabor. Sondern eine Stadt, über der ein silbriger Morgennebel stand, der die alten hohen Häuser an den Spitzen einhüllte. Im Einklang damit, daß Stransky darum wußte, daß die Blätter, die er gekaut hatte, im Jemen gebräuchlich waren, blickte er nun auf eine Architektur eindeutig arabischen Ursprungs. Wie mit Zuckerguß verziertes Gebäck. Jedes Gebäude eine Lebkuchenschönheit. Auch erkannte er die Minarett-Türme der Moscheen, die strahlend weiß den Nebel zerkratzten. Ein Nebel, der eine halbe Stunde später verflogen war und einen blauen Himmel und einen heißen Tag freigab.
Touristen sah er keine, die er hätte ansprechen, die er um Hilfe hätte bitten können. – Touristen um Hilfe bitten? Er mußte über sich selbst lachen. Touristen waren Menschen, die ja genau darum in die Fremde aufbrachen, um ständig andere, fremde Menschen um Hilfe zu bitten. Aber sicher nicht umgekehrt. Man hätte ihn für einen Langzeitstudenten und Rauschgiftsüchtigen gehalten. Jemand, der nicht einmal genau wußte, wo er sich eigentlich befand.
Es tat sich was in dieser Stadt. Vormittägliche Hektik. Die üblichen Männer mit ihren Turbanen und Krummdolchen und langen Hemden, aber
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