Lilli Steinbeck Bd. 1 - Die feine Nase der Lilli Steinbeck
lassen, gleich was für verwirrende Situationen sich noch ergeben würden. Denn das war ja klar, daß da noch Schlimmeres wartete, als mit ein paar Männern, die lange Hemden, Palästinensertücher und kleine, stark gebogene Dolche trugen, an ein paar Blättern herumzukauen und im übrigen aneinander vorbeizureden.
Zunächst einmal aber wurden die Kinder aus dem Zimmer geschickt, während die Männer sich auf die Teppiche niederließen und zum Gebet bereiteten. Es war dunkel im Raum geworden, jemand hatte eine Lampe angedreht, die in einem Gefäß aus Messing einsaß und aus der sich Licht in der Art herumschwirrender Elfen verteilte. Von draußen waren die Anfeuerungsrufe eines Muezzins zu vernehmen. Das traditionelle Gebrüll stand in grobem Widerspruch zur Empfehlung des Korans, eine gemäßigte Stimme einzusetzen. Ein höflicher Mensch zu sein, eben auch bezüglich der eigenen Lautstärke. Natürlich, die Gebetsrufe waren darum so laut, damit auch ein jeder sie hören konnte oder mußte. Somit auch Gott, der ja noch immer um die Ecke stand und bis tausend zählte und dem das Geschrei in den Ohren schmerzen mußte.
Aber das schien niemand zu kümmern. Wie in allen Religionen. Man läßt es sich nicht nehmen, auf die einfachste und billigste und banalste Weise sich als anständiger Mensch fühlen zu dürfen. Das Gebet ist das Freibier der Konfessionellen.
Stransky schloß die Augen und dachte eine Weile an gar nichts. Das Qat wurde jetzt ganz mächtig in ihm. Er war das Zeug nicht gewohnt, hatte nichts im Magen. Ein Schmerz streckte sich in seinem Kopf. Ein wunder Punkt, der seine Greifarme ausbreitete. Nicht sehr angenehm.
Aber das verging. Wie auch das Beten. Danach wechselte man das Stockwerk. Eine Etage höher trat man in einen ähnlichen Raum, der aber ohne Fernsehgerät auskam. Dafür war der Boden voll von Blechgeschirr, darin Speisen, die scharf leuchteten. Man könnte sagen: ein Schaltbrett von Speisen, jeder Menge Kraftstoffanzeigen und Borduhren. Dazu Reis und Fladenbrot. Vorher aber gab es Tee. Stransky wurde langsam ungeduldig. Er wollte endlich essen. Er stellte sich vor, daß ein Teil des Experiments darin bestehen könnte, ihm ständig feste Nahrung vorzuenthalten. Sie bloß in Aussicht zu stellen.
Aber die Angst war unnötig. Der Raum füllte sich mit weiteren Gästen, und irgendwann erfolgte der Startschuß. Jetzt ging alles sehr schnell, die Männer griffen in die Teller, als würden sie Teile aus einem Körper entfernen. Flinke Operateure. Eine Massenanatomie. Stransky tat es ihnen gleich, allein die rechte Hand benutzend. Das Essen schmeckte hervorragend, andererseits aber auch nicht so umwerfend, daß Stransky einen Trick hätte befürchten müssen. Sein Magen füllte sich, sein Hunger verschwand. Es war ein guter Augenblick.
Danach erneut Tee, erneut Qat, später ein letztes Gebet. Zum Schlafen wechselte man wieder ins darunterliegende Stockwerk. Der Gast wurde eingeladen, sich auf dieselbe Matte zu legen, auf der er aus seiner Ohnmacht erwacht war. Auch jetzt waren Männer um ihn, die sich ebenfalls zur Ruhe betteten. Bei alldem hatte Stransky keine einzige erwachsene Frau gesehen. Natürlich nicht. Die Frauen hielten sich in einem anderen Bereich des Hauses auf, sie versorgten die Kinder, hatten das Essen zubereitet, kauten Qat wie die Männer, diskutierten und zankten, blickten hinaus auf die Welt, ohne selbst gesehen zu werden. Ja, sie blieben unsichtbar. Ihre Unsichtbarkeit war gewissermaßen ein sichtbarer Teil ihrer Funktion und Bedeutung. Wie bei diesen Zwergen, die nie jemand zu Gesicht bekommt und die über Nacht alles in Ordnung oder Unordnung bringen. Gespenstisch.
Nicht minder gespenstisch war der Umstand, daß Stransky, als er nach einem langen Schlaf erwachte, alleine war. Der Raum jedoch war der gleiche. Er erkannte den Fernseher, die Lampe, die Teppiche. Tageslicht strömte durch das Oberlicht und durch die Ritzen der Fensterläden. Aber kein Mensch war zu sehen. Allerdings vernahm Stransky ein fernes Stimmengewirr, das von draußen, von der Straße herstammte. Wenn da wirklich eine Straße war und nicht etwa ein Versuchsraum mit Lautsprechern, aus denen eine orientalische Kakophonie drang.
Er rief einige Male ein »Hallo!«, dann erhob er sich von seiner Liegestatt. Er tat sich schwer dabei, griff sich auf den Rükken wie ein altes Weiblein und stöhnte.
»Verdammtes Qat«, sagte er sich. Aber das war ungerecht.
In der Mitte des Raums erblickte er jetzt einen
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