Lilli Steinbeck Bd. 1 - Die feine Nase der Lilli Steinbeck
seither als Mensch oder Schildkröte oder Schmetterling sein Dasein fristet. Nach einer Ohnmacht, einer Betäubung, ist es stets wie am Anfang. Die Welt ist unscharf. Und dann dreht irgend jemand an den Knöpfen, das Bild wird klarer, der Ton deutlicher, die Luft kälter. Das Leben tritt auf die Bühne wie einer dieser trötenden Showmaster, die alles großartig und wunderbar finden. Und obwohl wir von nichts noch eine Ahnung haben, glauben wir ihnen nicht. Wir zweifeln von Anfang an. Das macht aus uns, aus den Menschen wie den Schildkröten oder Schmetterlingen, sensible, melancholische und traurige Geschöpfe. Pessimisten von der ersten Sekunde an. Und das Schreckliche: Wir behalten recht.
Noch war alles verschwommen, das Bild wie der Ton. Georg Stransky empfand sich als ein Taucher, dem die Maske angelaufen war. Er strampelte innerlich und geriet endlich an die Oberfläche, hinaus aus dem Bauch, dem Ei, der Puppe. Die Welt war ein Flachbildschirm. Zumindest war das erste, worauf sein Blick fiel, eine langgestreckte Scheibe, über welche ein Kindergarten von Pünktchen trippelte und immer neue Ansichten der Wirklichkeit bildete. Eine flimmerfreie Wirklichkeit, die darin bestand, daß zunächst ein aus größter Höhe aufgenommener Wirbelsturm zu erkennen war, der sich stückweise im Kreis drehte. Dann sah man die Katastrophe, die aus diesem Wirbelsturm hervorgegangen war, die Flutwelle, die Überschwemmungen, die zerstörten Häuser, die altbekannten Bilder von Autos, die wie Spielzeug über reißende Bäche trieben. Immer diese Autos, als sei nichts geeigneter, den Verlust von Normalität zu bekunden. Was nur natürlich ist, daß uns etwa ein Ford Taunus näher ist als irgendein fremder Toter. Den Ford Taunus kennen wir ja ganz gut, wenigstens vom Sehen.
Am unteren Rand des Fernsehbildes fuhren in rascher Folge Schriftzeichen vorbei, aktuelle Meldungen, Börsenberichte, Wettertemperaturen, etwas von dieser Art wohl. Stransky meinte zu träumen. Was er sah, waren arabische Buchstaben. Zudem besaß die Stimme des Kommentators jene feuerwerkartige Rasanz und Vehemenz, die dem damit unvertrauten Hörer als ein Ausdruck morgenländischer Aufgeregtheit erscheinen konnte. Ein explosiver Tonfall, der wie das Niederbrennen einer amerikanischen Flagge anmutet.
Stransky wandte seinen Blick von dem spiegelartigen Bildschirm ab. Er befand sich in einem Raum, dessen weiß gekalkten Wände glänzten wie ein noch feuchter Schweinswal. Der Boden war mit reich verzierten Teppichen geradezu gepflastert, als bestünde nicht wirklich ein Boden, sondern eben bloß diese Vielzahl steifer, verspreizter Teppiche, wenn man so will »fliegender Teppiche«, was den Eindruck der Bodenlosigkeit gerechtfertigt hätte. Durch das halbrunde Oberlicht eines Fensters fiel gefärbtes Licht und bildete in der Mitte des Raums ein kleines Feuer. Gegen die Wände hin waren hohe Matten gerückt, darauf Kissen und Decken, und auf den Kissen und Decken Männer und Kinder. Als die Erwachsenen sahen, daß Stransky erwacht war, sagten sie etwas, das so klang wie »Allah und seine Vasallen«. Doch mit Sicherheit sprachen sie Arabisch. Wahrscheinlich hießen sie ihn einfach willkommen.
Was nun Stransky in höchstem Maße irritierte – davon abgesehen, daß er sich ganz eindeutig nicht im eigenen Wohnzimmer aufhielt –, war der Umstand, daß die dunklen Gesichter der Männer jeweils eine beträchtlich aufgeblähte Wange zeigten. Wobei es gleichgültig schien, ob die rechte oder linke Seite betroffen war. Stransky glaubte im ersten Moment etwas Außerirdisches zu erkennen, orientalisch marsianisch. Dann dachte er an eine Krankheit. Doch indem er nach und nach sein Bewußtsein und damit seine Konzentrationsfähigkeit wiedergewann und ihn auch die Furcht verließ, denn immerhin wurde er von sämtlichen Männern mit einer freundlichen Miene bedacht, erkannte er die Kaubewegung, welche diese gar nicht aufgeblähten, sondern vielmehr vollgestopften Wangen sich heben und senken ließ. Endlich fiel ihm auch die durchsichtige Plastiktüte auf, in der sich ein Bund blättriger Äste befand. Man bemerkte seinen Blick, freute sich. Dazu gab es Kommentare, die er natürlich nicht verstand. Niemand hier schien eine Fremdsprache zu beherrschen. Währenddessen waren die Fernsehbilder zur reinen Dekoration verkommen. Unbeachtet von allen lösten sie sich vor dem Hintergrund eines goldbestickten, abstrakten Wandbehangs auf. Ihrerseits ein Wandbehang. Die Wirklichkeit
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