Lilly Höschen (01): Walpurgismord
Beitrag erschien in einer Zeitung, die im östlichen Teil des Harzes ihre Leserschaft hat. In dem Artikel wurde nicht erwähnt, dass es sich um einen mutmaßlichen Verbrecher handelt. Es wurde darum gebeten, dass dieser Mann, wenn er sich darauf wiedererkennt, sich doch bitte bei der Polizei melden möge. Und die Bevölkerung wurde um entsprechende Hinweise gebeten. Natürlich begann in der Bevölkerung ein Rätselraten, worum es hier eigentlich ging. Fünfundzwanzig Anrufer wollten bis zum Abend wissen, warum dieser Mann gesucht wurde. Gisela und ihre Kollegen antworteten freundlich, dass man darüber zur Zeit keine Auskunft geben könne. Sechs Anrufer waren der Meinung, dass sie diesen Mann kennen. Kommissar Schneider und einer seiner Mitarbeiter klapperten diese Leute ab, jeweils begleitet von einem weiteren Wagen mit drei Polizisten in Zivil, die sich dezent zurückhielten, jedoch in Bereitschaft, im Fall eines Falles einzugreifen. Kommissar Schneider erlebte die kuriosesten Dinge. Ein Mann, der angeblich auf dem Bild erkannt worden war, war zwanzig Jahre jünger als der abgebildete, klein und dick. Ein Nachbar, der ihn nicht leiden konnte, wollte ihn auf dem Bild erkannt haben. Ein anderer war über achtzig Jahre alt und hatte eine Glatze. Als der Anrufer befragt wurde, warum er diesen Mann, der mit dem auf dem Bild keinerlei Ähnlichkeit aufwies, gemeldet hatte, gab er zur Antwort: Disar alde Krepel is ma schon imma unheimlich gewesn. Entmutigt fuhren Schneider und seine Leute abends zurück in die Dienststelle, wo Gisela sie erwartete.
»Ich habe noch einen interessanten Anruf erhalten«, empfing sie ihren Chef.
»Ach, Gisela, mein Bedarf an interessanten Anrufen ist für heute gedeckt. Na, sagen Sie schon, warum dieser Anruf so interessant war.
»Ein Vermieter von Ferienwohnungen will den Mann mit hundertprozentiger Gewissheit erkannt haben.«
»Und, wer ist es?«
»Wer, der Vermieter oder der Mieter?«
»Gisela, meine Geduld ist längst überstrapaziert.«
»Na gut, der Mann heißt angeblich Anton Struwe und wohnt in Bremerhaven. Der Vermieter nannte mir seine Adresse.«
»Super.«
»Nichts super. Ich habe die Adresse gecheckt. Die angegebene Straße gibt es gar nicht in Bremerhaven. Aber das ist ja gerade so interessant. Das heißt, der Typ hat eine falsche Adresse angegeben.«
»Hat der Vermieter sich den Ausweis des Mieters zeigen lassen.«
»Natürlich nicht. Trotzdem schlage ich vor, dass wir den Vermieter besuchen. Dann soll er uns ganz genau sagen, wann der Typ bei ihm gewohnt hat. Es handelt sich nämlich um einen Stammgast, der immer wieder mal kommt.«
»Gut, wenn Sie auf Ihren Feierabend verzichten können, dann fahren wir gleich los. Wo wohnt denn besagter Vermieter?«
»In Hahnenklee.«
»Prima, das ist ja gleich um die Ecke.«
Eine halbe Stunde später saßen Schneider und Gisela Berger im Wohnzimmer des Vermieters, einem alleinstehenden Mann in den Sechzigern namens Rudi Schütz. Er hatte bereits auf einen Zettel geschrieben, wann der Gast jeweils bei ihm gewohnt hatte:
»Also, Herr Struwe war voriges Jahr zum ersten Mal bei mir, und zwar vom 3. bis zum 15. April, und dann noch mal vom 8. bis zum 24. August. In diesem Jahr war er bisher dreimal da. Das erste Mal vom 4. bis zum 20. Mai, und dann wieder vom 1. bis zum 13. Juli, und zuletzt vom 29. Juli bis zum 22. August.«
Gisela und ihr Chef sahen sich an. Die beiden letzten Aufenthalte passten wie die Faust aufs Auge mit sämtlichen Verbrechen zusammen.
»Herr Schütz«, sagte nun Schneider in seiner ruhigen, freundlichen Art, »wenn ein Gast so oft kommt, dann gehört er ja fast schon zur Familie, wie man so schön sagt. Das heißt, man kennt sich doch recht gut mit der Zeit. Was für ein Mensch ist denn dieser Herr Struwe?«
»Ach, was soll ich da sagen ... ganz normal. Er ist ein freundlicher Kerl. Letztes Mal hat er mir sogar was mitgebracht. Eine flasche Schnaps aus Bayern. Er kam nämlich gerade von dort.«
Jetzt schnippte Gisela triumphierend mit dem Finger. Wenn er am 29. Juli hier ankam und vorher in Bayern war, dann konnte er dort am 26. Juli Pater Sigismund umgebracht haben.
»Na, solche Gäste hat man sicherlich nicht so häufig«, sprach Schneider weiter.
»Ne, das ist schon was Besonderes. Ihm gefällt es nunmal so gut hier. Und er ist einfach gerne im Harz. Die meiste Zeit merkt man gar nicht, dass er hier ist. Morgens fährt er meistens weg und kommt dann erst abends zurück. Praktisch kommt er nur
Weitere Kostenlose Bücher