Lilly Höschen (01): Walpurgismord
des Öfteren hier aufhalten. Im Grunde war das alles, was ich von Ihnen heute wollte, Herr Besserdich. Aber hören Sie sich bitte auch noch an, was unser Psychologe Herr Giese zu sagen hat. Nachdem Herr Wiebe als Täter ausscheidet, können Sie vielleicht sagen, ob dieses Täterprofil auf Georg Besserdich zutreffen könnte.«
Der Psychologe, ein nachdenklicher Typ von Anfang sechzig, setzte ein Lächeln auf und begann zu dozieren:
»Gehen wir mal davon aus, dass der Täter vor zwanzig Jahren seine Frau umgebracht hat und dann in der Versenkung verschwunden ist. Warum ist er in der Versenkung verschwunden? Weil er mit der Tat nicht klarkam. Es war ihm unmöglich, dem Sohn seiner Frau in die Augen zu schauen. Und er wollte die Verantwortung für seine Tat nicht übernehmen, weil er sich gar nicht schuldig fühlte, beziehungsweise, weil er die Schuld verdrängt hatte. Und dann: In welcher Versenkung ist er verschwunden? Nun, in erster Linie bleibt hier nur das Ausland. Es gibt Länder, in denen man relativ einfach von vorn anfangen kann. Er wurde ja damals auch nicht international gesucht. Und wenn man sich erstmal in einem Land etabliert hat, findet man auch Mittel und Wege, seinen Namen zu ändern und damit seine Identität zu verbergen. Allerdings lügen wir uns selbst in die Tasche, wenn wir von Neuanfang und neuer Identität reden. Alles, was wir in der alten Identität nicht bewältigt haben, schleppen wir mit uns herum. Unser Täter hat die Tötung seiner Frau die ganze Zeit mit sich herumgeschleppt. Und dazu kamen noch die Qualen aus Kindheit und Jugend. Unser Täter wurde so sehr missbraucht und malträtiert, dass es bereits in seinen Jugendjahren zur Katastrophe kam. Es war sicherlich kein Mord, sondern vermutlich Notwehr, dass er seinen Lehrer ins Jenseits befördert hat. Trotzdem nagt diese Sache an ihm herum, und zwar so sehr, dass er sich eines Tages entschloss, einen Schuldigen zu suchen und zu bestrafen. Das war Pater Sigismund. Danach wollte er seinen alten Kumpel Hans Gutbrodt dafür bestrafen, dass der ihm nicht geholfen hatte, als er missbraucht wurde. Und er wollte ihn bestrafen, weil er der Vater seines Sohnes war. Hans Gutbrodt hat ihm also quasi Frau und Sohn weggenommen. Er wollte allerdings nicht, dass sein Freund Hans stirbt, sondern leidet, genauso wie er gelitten hat. Deshalb hat er dessen Frau umgebracht.«
Jetzt trat für einen Moment Ruhe ein, und der Psychologe fuhr fort, indem er sanft mit den Knöcheln seiner rechten Hand auf den Tisch haute und bedeutungsvoll sagte:
»Und jetzt gibt es einen Bruch. Wenn mich nicht alles täuscht, was ich in jahrzehntelanger Praxis gelernt habe, dann will unser Täter gefasst werden. Er hat hierfür eine Reihe von Signalen gesendet. Erstens: der Brief an seinen Freund Hans mit dem Spruch über die Freundschaft der beiden. Zweitens: den Fußball aus Kindertagen. Und nachdem beides nicht zum Erfolg führte, hat er kurzerhand die Freundin seines Sohnes entführt. Selbstverständlich wollte er ihr nichts tun. Es war nur ein Warnschuss nach dem Motto Jetzt macht gefälligst hin, ich habe nicht ewig Zeit. Findet mich endlich. Und wenn ihr mich gefunden habt, dann bewundert mich für das, was ich getan habe. Ich habe Gerechtigkeit geschaffen! Genau so denkt unser Täter. Er ist also in unserer Nähe, damit wir ihn finden. Nur, wenn dies nicht bald geschieht, wird er wieder zu drastischeren Mitteln greifen, vielleicht wieder jemanden töten, nur um gefasst zu werden.«
»Und warum stellt er sich nicht einfach?« fragte Gisela mit gespielt langweiliger Miene.
»Weil er unsere Aufmerksamkeit will, weil wir uns um ihn kümmern sollen«, antwortete Psychologe Giese und stellte dann Amadeus die Frage:
»Könnten Sie in diesem Täterprofil Georg Besserdich wiedererkennen?«
»Herr Giese, ich war zwölf, als ich ihn zum letzten Mal gesehen habe. Ich muss das alles erst mal verdauen. Ich habe ihn als liebevollen Menschen in Erinnerung, nicht als psychopathischen Mörder.«
Lautenthal, 13. September 2010
»Und nachdem Herrn Wiebes Unschuld bewiesen ist, hat sich der Kommissar wieder auf Georg eingeschossen, wenn ich das richtig verstehe?«, fragte Lilly ihren Großneffen, der nach einem turbulenten Arbeitstag bei ihr aufgekreuzt war.
»Es sieht ganz so aus.«
Die beiden saßen am Tisch und nahmen ein kaltes Abendbrot zu sich. Draußen regnete es.
»Das heißt also, dass die Kriminalpolizei genauso dumm dasteht wie am Anfang. Es werden Menschen
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