Lilly Höschen (01): Walpurgismord
getrieben, alle möglichen Menschen, die ihm etwas angetan oder nicht geholfen hatten, Angst einflößen oder umbringen musste, hatte sich in Luft aufgelöst. Manfred Wiebe hatte sich zu einem lebensfrohen, tüchtigen Mann entwickelt. Er hatte zwar einige Konsequenzen gezogen, so zum Beispiel den Kontakt zu seiner Mutter abgebrochen, die nie für ihn dagewesen war. Aber insgesamt war er mit dem Leben versöhnt.
Wiebe hatte Amadeus zu sich gebeten, um die Ergebnisse der Kanadareise zu besprechen. Im Anschluss daran sollte Amadeus noch einmal zu Kommissar Schneider kommen. Die Männer saßen in Wiebes Büro und hatten auch Herrn Beermann dazu gebeten, um ihn über die Ergebnisse zu informieren. Der alte Mann erhob sich, um zu gehen. Als Amadeus ebenfalls aufstehen wollte, sagte er:
»Bleiben Sie bloß sitzen, junger Mann. Wer weiß, was passiert, wenn Sie wieder stolpern. Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Tag. Und«, jetzt klopfte er Amadeus auf die Schulter, »gut gemacht. Mit Ihnen macht es Spaß, zusammenzuarbeiten.«
Als die beiden allein waren, sagte Amadeus zu Wiebe:
»Es tut mir leid, dass Sie in die Mühlen von Justizia geraten sind.«
»Dafür können Sie doch nichts.«
»Es ist nur so, dass ich mich, obwohl ich auch Opfer bin, irgendwie verantwortlich fühle. Stellen Sie sich vor, mein Vater, oder der, den ich für meinen Vater hielt, steckt dahinter.«
»Der Kommissar hat mich über die Zusammenhänge aufgeklärt. Er hat mir auch gesagt, dass Ihr leiblicher Vater Hans Gutbrodt ist. Auf jeden Fall muss das alles für Sie sehr belastend sein. Ich habe ja auch erst erfahren, dass Ihre Freundin entführt wurde. Mein Gott, das ist schrecklich. Aber ich kann mir auch nicht gut vorstellen, dass Georg derart abgeglitten ist und nicht mehr Recht von Unrecht unterscheidet.«
»Als Sie mich als Vertragsanwalt ausgewählt haben, wussten Sie da schon, dass Georg mein Vater ist, wenn auch nicht mein Erzeuger?«
»Nein. Aber der Name Besserdich war mir sympathisch, weil Georg zu den wenigen im Internat gehörte, die mir zumindest nichts Böses wollten, und das war für mich damals schon eine ganze Menge. Erst danach habe ich recherchiert. Aber unabhängig davon, Sie sind nur für sich selbst verantwortlich, nicht für Väter, Erzeuger oder sonst jemanden. Ich mag Sie einfach. Und wenn es Ihnen Recht ist, sagen wir ab jetzt du .«
»Gerne. Haben Sie, äh, hast du irgend eine Ahnung, ob mein Vater, ich meine Georg, ein Wunschziel hatte? Ich meine geografisch. Der Kommissar sagte mir am Telefon, dass ich mir darüber mal Gedanken machen soll. Aber so recht fällt mir nichts ein. Wir waren, als ich ein Kind war, öfters an der Ostsee und ein paar Mal am Mittelmeer. Ich könnte aber nicht sagen, dass das seine Traumziele waren.«
Manfred Wiebe dachte einen Moment intensiv nach und dann kam wie aus der Pistole geschossen:
»Der Harz. Er hat den Harz immer geliebt. Andere träumten von Hawaii oder Alaska. Georg sehnte sich immer danach, im Harz zu sein. Komisch, als der Kommissar mir neulich diese Frage stellte, fiel es mir nicht ein.«
»Das ist erstaunlich. Jetzt, wo du es sagst ... Wir sind früher von Hannover aus oft in den Harz gefahren. Und zwar nicht nur, um Tante Lilly zu besuchen, sondern zum Wandern. Als Kind hing mir das manchmal zum Hals raus. Ich wäre lieber in einen Vergnügungspark gegangen, aber er fühlte sich am wohlsten, wenn wir durch einsame Wälder streifen konnten.«
»Gut, Amadeus. Ich denke, du hast noch etwas Zeit, bis du den Kommissar besuchst. Ich lade dich vorher noch zum Essen ein. Warst du schon mal im Achtermann?«
»Das ist nobel.«
»Zur Feier des Tages. Das Kanadageschäft ist gut gelaufen, und ich bin kein Mörder und Entführer. Also, das gönnen wir uns jetzt.«
Zwei Stunden später saß Amadeus im Besprechungszimmer mit Kommissar Schneider, Gisela Berger und dem Polizeipsychologen zusammen.
»Also, Herr Schneider, ich habe mir Gedanken gemacht über Ihre Frage, wo Georg gern leben würde. Ich hab darüber vorhin auch nochmal mit Herrn Wiebe gesprochen. Und wir sind beide der Meinung, dass er sich gern im Harz aufhalten würde, wenn er denn noch lebt.«
»Das ist interessant. Also, wenn er noch lebt und er sich diesen Wunsch tatsächlich erfüllt hat, dann würde das den Raum, wo wir ihn suchen müssen, natürlich erheblich einschränken. Sollte er mit den Verbrechen etwas zu tun haben, dann muss er entweder hier in der Gegend seinen Lebensmittelpunkt haben oder sich
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