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Lilly unter den Linden

Lilly unter den Linden

Titel: Lilly unter den Linden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne C. Voorhoeve
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steckte. Sollten das doch die Lehrer tun!
    Mitten in eine ihrer Auseinandersetzungen hinein klingelte es an der Wohnungstür – zweimal kurz, einmal lang, Rolfs Zeichen, und Lena stand auf. Komisch, dachte Rita, wir hatten doch für heute gar nichts ausgemacht?
    Sie ging in den Flur, wo Lena Rolf die Jacke abnahm und an die Garderobe hängte. »Überraschung!«, rief Lena. »Rolf bleibt zum Abendessen.«
    Rolf förderte aus seiner Aktentasche einen kleinen Schinken zu Tage. »Hausschlachtung bei meiner Vermieterin«, sagte er. »Mit solch einem Fest kann man doch nicht allein bleiben.« Er ging schnurstracks in die Küche, fand ein Messer und malträtierte ungeschickt den Schinken.
    Rita folgte ihm langsam und stellte sich auf einen anstrengenden Abend ein, denn zweifellos würde Lena auch den Nachhilfelehrer dazu bringen, auf sie einzuwirken. Aber nichts dergleichen geschah, es war, als hätte Lena völlig vergessen, worüber sie erst vor wenigen Minuten leidenschaftlich gestritten hatte. Sie setzte die Teekanne auf und erkundigte sich dann eingehend danach, wie Rolf den Tag verbracht hatte.
    Rolf Wollmann hatte eine romantisch-traurige Geschichte, die Ritas Herz anrührte. In den letzten Kriegstagen in Berlin geboren, hatte er seinen in Russland vermissten Vater nie kennen gelernt; die Mutter war im Hungerwinter 1946/47 gestorben und hatte ihn in der Obhut einer unverheirateten Weimarer Großtante zurückgelassen, von der Rolf mit großer Zuneigung sprach. Sie hatte ihm, als sie vor fünf Jahren hochbetagt starb, ein wenig Geld, ein Klavier und einen fast neuen Wartburg vermacht, mit dem sie bis zuletzt selbst in der Stadt herumgekurvt war – der Schrecken von Weimar, behauptete ihr Neffe. Rolf, der eine kaufmännische Lehre absolviert hatte, hatte die Wohnungseinrichtung verkauft, das Klavier untergestellt, einige Erinnerungen in den Wartburg gepackt und war nach Jena aufgebrochen, um zu studieren und Verlagslektor zu werden. Er wohnte eine Zeit lang im selben Haus wie Lena und Bernd, und ihre Freundschaft hatte damit begonnen, dass sie ihn auf die Pakete westdeutscher Verlage ansprach, die er ab und zu erhielt.
    Ohne Zweifel musste der arme Rolf einsam sein, wenn er abends von seinem Schreibtisch im Verlag in die kalte, leere Wohnung zurückkehrte. Trotzdem hatte Rita nicht damit gerechnet, dass er nach diesem ersten gemeinsamen Abendessen so oft bei ihnen auftauchen würde. Er ließ ein Paar Hausschuhe da, kannte das Versteck ihres Wohnungsschlüssels (im kleinen Schlitz unter der obersten Treppenstufe), und wenn Rita nicht alles täuschte, war Lena sogar dazu übergegangen, größere Mengen einzukaufen.
    »Er kommt zur Mathestunde, zum Leseabend und praktisch jeden Freitag und Samstag«, sagte Rita eines Morgens. »Ich glaube, Rolf wird uns bald fragen, ob er hier einziehen darf.«
    »Das hat er schon«, entgegnete Lena und lächelte vergnügt vor sich hin.
    Rita brauchte einige Augenblicke, um sich von ihrer Überraschung zu erholen. »Und was hast du gesagt?«
    »Dass wir es uns überlegen.«
    »Und Bernd?«
    Lena schürzte die Lippen. »Sagen wir …«, erwiderte sie gedehnt, »er ist Bestandteil meiner Überlegungen …«
    Die Stunden und Tage bis zu Rolfs nächstem Besuch zogen sich hin. Ausgerechnet jetzt, wo Rita ihn neugierigst erwartete, ließ er sich auf einmal nicht mehr blicken. Erst am nächsten Leseabend fast eine Woche später, als ein Herbststurm um die Ecken fegte und Rita schon dachte, das Treffen würde ausfallen, hatte sie Gelegenheit, ihn und Lena mit Argusaugen zu beobachten und eine Reihe merkwürdiger Veränderungen festzustellen.
    Es fing damit an, dass Lena vor dem Eintreffen der anderen fast anderthalb Stunden im Bad zubrachte, sich die Haare wusch und föhnte, Nagellack, Lippenstift und einen dezenten Hauch von Parfüm auflegte. Rita hatte das noch nie bei ihrer Schwester erlebt, die es durchaus fertig brachte, ihren Besuch in Kittelschürze und Pantoffeln zu empfangen. Sie hatte nicht einmal gewusst, dass Lena überhaupt ein Parfüm besaß! Hinter der verschlossenen Tür hörte sie das Badewasser plätschern und Lena leise Lieder summen.
    Da fühlte Rita, wie eine jämmerliche, herzklopfende Angst sich ihrer bemächtigte. War es denn möglich, dass das Leben, das sie und Lena sich im letzten Dreivierteljahr eingerichtet hatten, schon wieder vorbei sein sollte? Es kam ihr vor, als hätte sie gerade erst begonnen, sich in jenem beruhigenden Rhythmus alltäglicher kleiner

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