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Lilly unter den Linden

Lilly unter den Linden

Titel: Lilly unter den Linden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne C. Voorhoeve
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nach minutenlanger Raserei völlig erledigt. Aber im Gegensatz zum armen Elvis konnte ich einen Unterschied erkennen – und wie! Ich ließ mich auf den Boden fallen und betrachtete mit grimmiger Zufriedenheit alle Einzelheiten meines Zerstörungswerks, und dabei fiel mein Blick auf die Handtasche.
    Es war die alte Krokotasche, die schon meiner Großmutter gehört und die alles enthalten hatte, was Mami in jener Nacht aus der DDR hatte mitnehmen können: ein kleines Geldtäschchen, einige Taschentücher, einen Kamm und Teresas Pass. Diese paar Dinge – natürlich mit Ausnahme des Passes – befanden sich immer noch darin, wie ich wusste, aber was aus der Tasche hervorschaute, war etwas anderes: ein zusammengeschnürtes Bündel alter gelblicher Briefe mit Lenas großer, ausladender Handschrift auf dem Umschlag. Langsam ging ich aus dem Schneidersitz nach vorn auf die Knie, streckte mich nach der Tasche aus und zog sie zu mir hinüber. Ich streifte die Schnur ab und öffnete den Brief, der zuoberst lag. Er war sehr kurz, und er war alt: 15. November 1976, stand darauf.
    »Liebe Rita«, las ich, »nun tappe ich also herum wie eine Rückkehrerin von einer Zeitreise und gehöre weder zu der einen noch zu der anderen Welt, und Rolf hält dauernd meine Hand, als befürchte er, ich könne gleich wieder verschwinden! Drei Jahre sind nur ein winziger Augenblick in der Ewigkeit, und trotzdem ist das Leben in der Zwischenzeit derart schnell ohne mich weitergegangen, dass ich kaum noch aufspringen kann. Nächste Woche holen wir unsere Katrin nach Hause. Wie schaut sie mich an – wie eine Fremde? Aber jetzt fängt ein neues Leben an. Und was uns beide betrifft, Rita … heißt es nicht, dass Liebe und Sehnsucht Mauern niederreißen? Eines Tages wird es so weit sein, und bis dahin träume ich mich über die Mauer hinweg zu dir …«
    Pascal und Frau Gubler saßen in der Küche und tranken Tee. Sie hatten meinen Tee aufgebrüht, den ich für Meggi und mich besorgt hatte, aber das interessierte mich gar nicht mehr.
    »Pascal«, sagte ich geradeheraus und ich erkannte meine Stimme kaum wieder, weil sie so erschrocken klang. »War Lena auch mal schwer krank?«
    Die beiden blickten mich verblüfft an. Im Gegensatz zu mir hatten sie noch nicht vergessen, dass ich, als sie mich das letzte Mal sahen, einen Wutanfall gehabt und das Schlafzimmer verwüstet hatte. »Krank?«, wiederholte Pascal. »Nicht dass ich wüsste.«
    »Dann versteh ich das nicht!« Meine Stimme war ganz hoch. »Da muss etwas gewesen sein! Sie hat ihre Tochter drei Jahre lang nicht gesehen! Hat Mami dir etwas erzählt? Sie muss doch irgendjemandem davon erzählt haben!«
    Pascal sagte in schneller Folge: »Erzählt? Mir? Nein. Nie!«
    Ich kannte ihn ziemlich gut. Ich konnte genau erkennen, dass er log. Was ich nicht wusste, war: Warum? Ich ahnte nur instinktiv, dass es etwas sehr Ernstes sein musste, wenn erst Mami und nun auch Pascal nicht wollten, dass ich es erfuhr. Pascal wich sofort meinem Blick aus und rührte umständlich in seiner Teetasse. Ohne zu wissen wieso, erfüllte es mich mit sprachloser Bestürzung.
    »Was hast du denn da?«, fragte Frau Gubler.
    Ich merkte, dass ich das Bündel Briefe noch in der Hand hielt. Langsam steckte ich es hinter meinen Rücken. »Nichts«, sagte ich. »Nur ein paar Briefe. Nicht so wichtig.«
    »Willst du eine Tasse Tee?«, fragte sie.
    Ich schüttelte stumm den Kopf.
    »Was hast du denn?«, wiederholte sie ratlos und schaute von mir zu Pascal.
    »Ich gehe aufräumen«, murmelte ich und wandte mich ab.
    Zurück im Schlafzimmer, versuchte ich einen klaren Gedanken zu fassen. Ich hatte natürlich nicht nur den einen Brief, sondern das ganze Bündel gelesen, aber ich wurde einfach nicht schlau daraus. Während ich mechanisch die überall verstreuten Kleidungsstücke einsammelte, faltete und in die Kartons zurückschichtete, gingen mir seltsame Sätze durch den Kopf wie: »Nichts davon ist deine Schuld!«, oder: »Bitte glaub mir, dass ich nichts bereue.« Ich wünschte, Lena hätte irgendwo in diesen Briefen auch nur einen Hinweis darauf gegeben, was sie meinte. Aber dann fiel mir ein, dass sie dies wohl nicht hatte tun können, da Briefe in der DDR geöffnet werden und Absender und Empfänger in Schwierigkeiten bringen konnten. Ich nahm an, dass viele Familien miteinander in einer solchen Rätselsprache kommunizierten. Das ist ja völlig verrückt!, schoss es mir durch den Kopf.
    Und das Verrückteste war, dass Mami

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