Lilly unter den Linden
»Wie heißt du?«, fragte sie.
»Lilly Engelhart«, piepste ich zwischen zwei Schluchzern.
»Und wo wohnst du?«
»Heinrich-Kleist-Straße 18–20.«
Die Polizistin richtete sich auf. »Im Internat um die Ecke«, sagte sie ärgerlich. »Wahrscheinlich ist sie nur spazieren gegangen.«
»Um diese Zeit?«, wagte jemand einen Einwand. »Im Dunkeln?«
»Hätte sie wissen müssen, dass man hier von den Bewohnern angefallen wird?«, fragte der Polizist scharf. »Das ist ein kleines Mädchen, verdammt noch mal.«
»Komm«, sagte die Polizistin und half mir auf. »Du fährst mit uns.«
Sie führte mich zum Wagen. Während ich einstieg, konnte ich hören, wie der Polizist zu den Männern sagte: »Sie können von Glück reden, wenn die Eltern Sie nicht anzeigen.« Die Nachbarschaft stand betreten unter der Straßenlaterne, als wir davonfuhren.
Die Nachtpförtnerin, die wie immer um diese Zeit vor dem Fernseher saß, riss sich ungläubig die Brille von der Nase, als die beiden Polizisten mit mir auftauchten. »Kennen Sie das Mädchen?«, fragte der Polizist.
»Natürlich.« Sie starrte mich an. »Das ist Lilly. Hat sie einen Unfall gehabt?«
»Sie ist den Nachbarschaftssheriffs in die Hände gefallen«, sagte die Polizistin und hatte immer noch Mühe, ihren Zorn zu unterdrücken. »Wollte wohl nur ein bisschen spazieren gehen. Wenn die Eltern Anzeige erstatten wollen, können sie sich gern an mich wenden.«
»Wie bist du denn herausgekommen?«, fragte die Pförtnerin fassungslos.
»Durch den Fahrradkeller«, murmelte ich.
»Vielleicht nimmst du erst mal ein Bad«, sagte die Polizistin. »Das beruhigt. Das mache ich auch immer, wenn ich mich aufrege.«
»Okay«, flüsterte ich.
»Möchtest du, dass jemand bei dir ist? Sollen wir bei dir zu Hause anrufen?«, schlug sie vor.
Ich schüttelte den Kopf. Ich wollte ihr nicht sagen, dass es niemanden gab, den sie hätte anrufen können, aber der Gedanke trieb mir dann doch die Tränen in die Augen. Noch nie in meinem Leben hatte ich mich so allein gefühlt.
»Ihre Mutter ist vor zwei Wochen gestorben«, flüsterte die Pförtnerin.
Ich drehte mich auf der Stelle um und rannte die Treppe hinauf, denn um nichts in der Welt wollte ich in die mitleidigen Augen der Polizistin sehen. Sie sah nett aus, mit einem hübschen runden Gesicht und vielen Dauerwellenlöckchen. Während ich unter der heißen Dusche stand – denn eine Badewanne hatten wir nur in der Krankenstation –, malte ich mir aus, wie ich an ihrer Hand einfach davonging. Flötenmusik spielte, die Türen des Polizeiwagens fielen hinter uns zu und seine Rücklichter verschwanden im orangeroten Licht der Sonne, als wir mitten durch sie hindurchfuhren.
Hinterher fiel mir ein, dass ich nicht einmal darauf geachtet hatte, wer von den Beteiligten zu »Lenas Haus« gehörte. Aber mit »Lenas Haus« war es nach diesem Abend ohnehin vorbei. Harald und Helga und der Dicke mit den Pockennarben hatten ihm seinen Zauber genommen, und ich bin nie wieder dort gewesen.
Die Wohnung ging schneller weg als der BMW – klar, beste Lage Eppendorf, bemerkte Pascal. Er saß auf der Heizung und ich auf dem blanken Wohnzimmerfußboden, die letzten Umzugskartons standen noch herum und aus dem Nebenraum hörten wir die Maklerin unsere Wohnung anpreisen. »Hier wäre dann eine Möglichkeit für ein zweites Kinderzimmer oder Arbeitszimmer, ganz nach Wunsch. Telefonanschluss ist vorhanden. Der Vormieter hat den Raum als Dunkelkammer genutzt …«
»Wie ist denn deine neue WG?«, fragte ich.
»Ganz in Ordnung«, meinte Pascal. »Zwei Journalisten, unbeweibt, eher ruhig. Ich bin ja ohnehin kaum da.«
»Und … was machst du Weihnachten?« Ich versuchte einen beiläufigen Ton in meine Stimme zu legen.
Pascal zögerte einen Moment. »Acapulco«, sagte er dann und studierte das Haus auf der anderen Straßenseite so aufmerksam, als hätte ihm dort jemand gewunken. »Für den Heine-Katalog. Am ersten Feiertag geht’s los.«
»Ach so«, murmelte ich.
»Hör mal«, setzte er nach, »ich muss einfach mal raus. Ich kann jetzt nicht gleich wieder auf Familie machen, so ohne Rita …«
»Aber du warst doch gerade erst weg.«
Pascal stieß sich von der Heizung ab und kam zu mir hinüber. Er ging vor mir in die Hocke und strich mir mit dem Zeigefinger den Pony aus der Stirn, damit er mir besser ins Gesicht sehen konnte.
»Hast du wirklich Sorge, dass du mich am Hals hast?«, fragte ich bedrückt.
»Quatsch«, sagte Pascal mit
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