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Lilly unter den Linden

Lilly unter den Linden

Titel: Lilly unter den Linden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne C. Voorhoeve
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ich den BMW nicht behalten konnte, leuchtete mir ein. Trotzdem setzte alles in mir zum Sprung an, um zu verteidigen, was die Hand meiner Mutter jemals berührt hatte. In Kampfstimmung betrat ich die Wohnung.
    Und traute meinen Augen nicht. An der Wand, den ganzen Flur entlang, waren Umzugskisten gestapelt. Die Bilder waren abgehängt, die Flurgarderobe zerlegt, die ganze Wohnung hallte und verstärkte jedes kleine Geräusch, denn auch die Teppiche waren bereits zusammengerollt. Zwei fleißige Arbeiter waren offenbar schon seit Tagen am Werk: Pascal, der mich verlegen aus dem Schlafzimmer grüßte, und Frau Gubler, die im Wohnzimmer den Staub vom leeren Bücherregal wischte. Ihr verschlug es die Sprache, als sie mich im Türrahmen stehen sah.
    »Ich dachte, wir wollten das zusammen machen!«, brachte ich nach einer ganzen Weile heraus.
    »Und wir dachten«, sagte Frau Gubler beklommen, »so sei alles vielleicht ein bisschen weniger schmerzhaft für dich.«
    »Aber woher soll ich jetzt wissen, was ich behalten will?« Ich drehte mich auf dem Absatz um, zog wahllos einen Karton vom Stapel und riss ihn auf. Da! In meinem eigenen Zimmer waren sie also auch schon! Rote und gelbe Blitze zuckten in meinem Kopf. »Ich glaub, ich spinne!«, schrie ich. »Das ist ja alles meins!«
    Pascal trat aus dem Schlafzimmer. Die beiden sahen stumm zu, wie ich kramte und mit Büchern um mich warf. Die kleine Hexe! Meine ganzen Janosch-Bände! Mein Krieg-der-Sterne-Album! Relikte meiner Kindheit, die – unbeachtet – über Jahre hinweg Staub angesetzt hatten, kamen zu neuer, ungeahnter Bedeutung. Hagen von Tronje wirft sich über den Nibelungenschatz! »Seid ihr bescheuert oder was?«, brüllte ich aus voller Kehle.
    Frau Gubler kam beschwichtigend auf mich zu. »Lilly, das sind doch die Sachen, die wir behalten wollen!«
    »Die wir behalten wollen? Na, vielen Dank!« Ich richtete mich zu meiner vollen Größe von einem Meter zweiundfünfzig auf und trompetete sie an: »Ich will Ihnen mal was sagen! Das sind alles meine Sachen, die ganze Wohnung! Wenn ich etwas behalten will, dann weiß ich das schon selbst!«
    Ich ging zur nächsten Kiste über, doch Pascal fiel mir in den Arm. »Lilly, du wirst doch jetzt nicht anfangen, alles wieder auszupacken! Das war eine Heidenarbeit, und es sind immer noch Berge …«
    »Du hältst dich da raus!«, zischte ich ihn an. »Erst abhauen und mir dann sagen, was ich tun soll! Was machst du denn überhaupt hier?«
    Ich ließ die Bücherkisten stehen und ging ins Schlafzimmer und der Boden tat sich vor mir auf. Weit offen stehende, leere Schränke. Eine weiße Matratze auf dem Bett. Modezeitschriften in der Zimmerecke, fürs Altpapier gestapelt. Der persönliche Besitz meiner Mutter passte in zwei Koffer und fünf Umzugskartons, mehr war nicht übrig von ihr.
    Stille. Der vertrocknete Ficus Benjamini ließ ein knisterndes Blatt zu Boden fallen. Ich wandte mich ganz langsam wieder um, holte aus und schlug die Zimmertür mitten in die blassen, angespannten Gesichter der beiden Fremden draußen im Flur.
    Als Mami das erste Mal aus dem Krankenhaus wiederkam, hatte sie mir ein kleines geheimnisvolles Pappkistchen mitgebracht. Das Kistchen hatte Löcher und roch nach Sägespänen, und als ich überrascht daran rüttelte, riefen Mami und Pascal im Chor: »Nicht!« Vorsichtig öffnete ich das Kistchen, und heraus kletterte mein Hamster Elvis.
    Fast ein ganzes Jahr war Elvis überall mit dabei. Er fuhr sogar mit uns in den Urlaub. Ich hatte mich bald so sehr an ihn gewöhnt, dass ich nachts aufwachte, wenn das Geräusch seiner Fitnessübungen auf dem Laufrad verstummte. Es war sehr schwer, ein neues Zuhause für ihn zu finden, als ich ins Internat musste. Meine Freundin Mia nahm ihn dann schließlich, aber bei ihr musste er in der Waschküche wohnen. Schluss mit dem Lego-Trainingsparcours im Flur, Schluss mit dem Versteckspiel hinter der Badewanne, mit dem Nüsschenkegeln unter meinem Bett. Mein Hamster Elvis war das erste Opfer unseres neuen Lebens, und er verstand wahrscheinlich noch weniger als ich, was eigentlich passiert war.
    Ich musste an Elvis denken, während ich Mamis Schlafzimmer verwüstete: an sein atemloses, irres Rennen im Laufrad und daran, wie er ab und zu innehielt und sich umschaute, als ob er erwartete, dass er ein Stück vorangekommen war und seine Umgebung sich verändert hatte. Ich fragte mich, was ihn wohl dazu brachte, es unermüdlich immer wieder zu probieren. Ich jedenfalls war

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