Lilly unter den Linden
auf«, sagte Pascal. »Wir müssen das irgendwie zusammen hinkriegen. Deine Mutter ist vielleicht gerade glücklich da oben angekommen und will sich an den himmlischen Gesängen freuen. Stattdessen hört sie uns hier unten streiten und keifen! Nach allem, was sie durchgemacht hat, hat sie das einfach nicht verdient.«
Seine Stimme brach und zum ersten Mal in meinem Leben sah ich einen erwachsenen Mann weinen. Es war ein Schock, und gleichzeitig fühlte ich mich unglaublich stark. Als ich Pascal umarmte und mit ihm weinte, tat ich es nicht nur wegen Mami oder weil mich unsere ganze trostlose Lage in diesem Augenblick so überwältigte. Ich tat es auch, weil ich es wollte, weil Pascal es nötig hatte – und weil mich dabei eine Ahnung streifte, dass man nicht alles mit sich geschehen lassen darf, dass man etwas tun kann, dass man etwas tun muss …
10
Zwei Tage später wurde ich beinahe verhaftet, oder besser: Ich wurde von der Polizei in Gewahrsam genommen. Meine abendlichen Spaziergänge zu »Lenas Haus« waren mittlerweile zu einem festen Ritual geworden, das zum Schlafengehen dazugehörte. Ich musste einfach nachsehen, ob das Licht brannte. Aber an diesem Abend, schon von der Straßenecke aus, konnte ich sehen, dass das Licht aus war, und als ich mich enttäuscht umdrehen und wieder gehen wollte, blitzte neben mir eine Taschenlampe auf. Sie schien mir direkt ins Gesicht. Geblendet riss ich die Arme vor die Augen und machte instinktiv den Mund auf, um zu schreien, aber es kam kein Ton heraus. Im gleichen Moment wurde ich auch schon von hinten gepackt und festgehalten.
»Hab ich’s mir doch gedacht!«, knurrte die Stimme eines Mannes. »Da ist sie wieder.«
Ein zweiter Mann leuchtete mir ins Gesicht. »Das ist ja noch ein Kind«, sagte er.
Der Mann, der zuerst gesprochen hatte, bog mir den Arm nach hinten, dass es knackte. »Was schleichst du hier jeden Abend herum?«, wollte er wissen.
Ich fand meine Stimme wieder. »Lassen Sie mich los!«, schrie ich, und dann aus Leibeskräften: »Hilfe! Hilfe!«
Der Mann hinter mir legte mir brutal die Hand auf den Mund. Ich biss feste zu, ein Reflex, und spürte sofort auf Zunge und Lippen den widerlichen Geschmack von Salz und Blut. Der Mann fluchte und riss seine Hand zurück, und gleich darauf lag ich auch schon auf der Straße, so einen Stoß hatte er mir versetzt. In den Häusern ringsum gingen die Lichter an. Menschen erschienen am Fenster. »Harald, bist du das?«, rief eine Frau.
»Am besten rufst du die Polizei, Helga«, antwortete der Mann mit der Taschenlampe. »Nun sei doch nicht so grob«, sagte er zu dem anderen. »Wo kommst du denn her?«, fragte er mich nicht unfreundlich.
Ich blieb einfach sitzen und heulte. Weitere Leute kamen aus ihren Häusern und standen um mich herum. »Wie eine Landstreicherin sieht sie nicht gerade aus«, meinte eine Frau.
Die Frau, die Helga hieß, beugte sich zu mir hinunter, sah sich meine aufgeschürften Handflächen an und blickte mir ins Gesicht. »Wie heißt du denn?«, fragte sie. »Wo wohnst du?«
»Wahrscheinlich unterm Hauptbahnhof«, brummte der Mann, den ich gebissen hatte. »Die huren und fixen und klauen, was das Zeug hält. Ich möchte wetten, sie schleichen zu mehreren hier herum und kundschaften aus, wo man einen Bruch machen kann. Scheiße, hoffentlich hat sie kein Aids«, sorgte er sich. Er untersuchte seine Hand im Licht der Straßenlaterne und sah mich wutentbrannt an. Er war ein ungepflegter dicker Kerl mittleren Alters und selbst in diesem Licht konnte man sehen, dass dicke Akne- oder Pockennarben sein Gesicht mit unzähligen Kratern überzogen. Ich versuchte nicht daran zu denken, dass ich seine ekelhaften Finger im Mund gehabt hatte.
»Müsst ihr sie denn gleich auf die Straße schmeißen?«, regte sich jemand auf. Und Helga wiederholte: »Jetzt sag doch mal. Woher kommst du? Wissen deine Eltern, wo du bist?«
Alle blickten zur Seite, als Blaulicht zuckte und ein Polizeiwagen langsam um die Ecke bog. Zwei Polizisten stiegen aus und kamen näher, ein Mann und eine Frau.
»Guten Abend«, sagte der Polizist. »Was ist denn hier los?«
»Kinderbanden«, rief eine Frau. »Eine haben wir erwischt.«
»Die Kleine schleicht jeden Abend hier herum«, antwortete der Mann mit der Taschenlampe. »Immer um dieselbe Zeit. Wir haben sie seit Tagen beobachtet.«
»Gebissen hat sie mich!«, klagte der Dicke und streckte der Polizistin seine Hand entgegen. Die schob ihn weg und ging vor mir in die Hocke.
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