Lilly unter den Linden
in all dem Schrecken, den wir in den letzten Monaten miteinander geteilt hatten, ein Geheimnis vor mir bewahrt haben sollte. Nicht irgendein Geheimnis, nein – ein Geheimnis ausgerechnet um Lena, meine fröhliche, liebevolle, nach zwei Tagen des Kennenlernens schon schmerzlich vermisste Tante.
Stimmen drangen durch die halb offene Tür: Im Flur verabschiedete sich Frau Gubler. Sie blickte kurz zu mir hinein und winkte lächelnd, und dann hörte ich sie gedämpft mit Pascal sprechen: »Das ist jetzt eine wichtige Phase der Trauerarbeit. Nach dem Schock kommt die Wut. Es ist ganz normal, dass sie jetzt ein wenig aggressiv ist.«
Ich ließ den Pullover sinken, den ich gerade in der Hand hielt, und lauschte. Pascal machte sich nicht einmal die Mühe, seine Stimme zu senken. »Wann, äh … wann kommt eigentlich die Pubertät? Damit ist doch jetzt auch bald zu rechnen, oder?«
Frau Gublers Antwort, schon im Treppenhaus, verstand ich nicht mehr. Die Wohnungstür klappte zu, Pascal kam ins Schlafzimmer, lehnte sich an die Wand und musterte mich wortlos. Ich rauchte fast vor Zorn über das, was ich eben gehört hatte.
»Ist sie weg?«, fragte ich schließlich angriffslustig.
»Ist sie«, sagte Pascal. Er verschränkte die Arme. »Warum musst du auch so furchtbar kindisch sein?«
»Warum musst du mich anlügen?«, schoss ich sofort zurück und wollte noch viel mehr hinzufügen, aber Pascal schnitt mir das Wort ab.
»Jetzt hör mir mal zu, mein Mädchen!«, sagte er streng. »Wir sollten endlich eine Sache klarstellen. Es gibt Dinge zu erledigen, die für uns beide nicht gerade leicht sind. Aber dabei kann sich nicht ständig alles nur um dich drehen! Ich habe deine Mutter auch verloren! Das Letzte, was ich jetzt brauche, sind deine Auftritte!«
»Ich hab gehört, was du brauchst!«, rief ich. »Was hast du ihr noch von uns erzählt? Dass Mami an den Nägeln gekaut hat? Dass du kotzen musstest, als du ihre Narbe gesehen hast?«
Pascals Augen traten aus den Höhlen. Sekundenlang starrte er mich nur sprachlos an. Dann holte er tief Luft und brüllte aus Leibeskräften: »Jetzt reicht’s! Bist du vollkommen übergeschnappt?«
»Brüll mich nicht an!«, brüllte ich zurück.
Pascal schlug sich an den Kopf. Er drehte sich einmal um sich selbst, die Arme wie ein verirrter Falter nach links und rechts ausgestreckt, dann stürzte er aus dem Zimmer und ich hörte ihn durch den leeren Flur rasen. »Warum tu ich mir das überhaupt an?«, tobte er. »Warum packe ich nicht einfach meine Sachen und verschwinde? Leihwagen gefällig? Anruf genügt! Mein Krempel ist in zehn Minuten hier raus!«
Ich lief zur Tür und sah ungläubig zu, wie er vom Wohnzimmer zurück in den Flur rannte und dabei wilde Gesten gegen die Überreste unserer Wohnung vollführte. »Bücher, Bilder, Teppiche, Möbel! Was habe ich damit zu schaffen?« Die Bretter der Flurgarderobe gerieten ins Wanken und fielen krachend zur Seite, als er seine Jacke an sich riss. »Jawohl!«, schrie Pascal. »Das geht mich doch alles gar nichts an! Das Leben ist schön, also raus hier!« Er warf sich die Jacke um die Schultern und stürzte aus der Wohnung, ohne mich eines Blickes zu würdigen. Als er an mir vorbeilief, konnte ich hören, wie seine Zähne knirschten.
Die Tür knallte zu, gefolgt von Totenstille, und ich war allein mit einer geisterhaften kleinen Gestalt, die mir aus dem Garderobenspiegel entgegensah – einem dünnen, blassen Ding mit zotteligen Haaren, aufgerissenen Augen und einer kreisrunden Höhle mitten im Gesicht. Es dauerte einen Moment, bis ich mich selbst erkannte und merkte, dass mein Mund sperrangelweit offen stand.
Schon einen Augenblick später drehte sich der Schlüssel im Türschloss und Pascal kam wieder herein. »Andererseits«, sagte er vollkommen ruhig, »wer sich mit einer Alleinerziehenden einlässt, muss mit so etwas rechnen. Die Beziehung ist vorbei, aber das Gör hast du noch am Hals.«
Er legte den Arm um mich und führte mich ins Schlafzimmer. Ich ließ es mir widerstandslos gefallen. Wir setzten uns aufs Bett und Pascal sah mich an. Ich glaube, es war das erste Mal seit vielen, vielen Wochen, dass wir uns wieder in die Augen schauen konnten. Ich entdeckte, dass Pascal grauschwarze Augenringe und lauter tiefe kleine Falten um die Augen hatte, die mir vorher noch nie aufgefallen waren; überhaupt waren seine Augen viel dunkler, als ich sie in Erinnerung hatte. Es war, als hätte sich ein Schatten darüber gelegt.
»Pass
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