Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Lilly unter den Linden

Lilly unter den Linden

Titel: Lilly unter den Linden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne C. Voorhoeve
Vom Netzwerk:
ihn gestürzt.
    Als ob er es ahnte, hob Pascal abwehrend die Hände. »Lilly, nein! Dieser Ton gefällt mir jetzt überhaupt nicht!«
    »Du wolltest einfach verschwinden, gib’s zu!« Ich horchte in den Flur – ich wollte unbedingt vermeiden, dass Meggi etwas von alldem mitbekam! »Wenn ich nicht zufällig heute hier wäre, hätte ich dich nie wiedergesehen!«
    »Sag mal, spinnst du? Ich will lediglich ein paar Sachen …«
    »Ich dachte, du behältst unsere Wohnung!«
    Jetzt war es heraus, gleichzeitig mit einem Schwall von Tränen, der plötzlich hinter meinen Augen aufstieg und sie zum Brennen brachte. Aber den Gefallen wollte ich ihm nicht tun. Ich verschränkte die Arme, legte den Kopf in den Nacken (vielleicht liefen die Tränen wieder ab!) und sah mit zusammengekniffenen Lippen zur Zimmerdecke hoch.
    »Wie denn? Du weißt doch, was das hier kostet!« Pascal fuchtelte hilflos herum.
    Dann kam er ungelenk auf mich zu. Ich rückte trotzig weg, er hob die Stimme: »Ja, meinst du denn, mir macht das Spaß? Ich war hier glücklich mit deiner Mutter! Mein Herz blutet mit jedem Teil, das ich in diesen Karton lege!«
    »Ich glaub dir kein Wort!«, flüsterte ich.
    »Lilly, jetzt mach’s mir doch nicht zusätzlich schwer!« Pascal verlegte sich aufs Bitten. »Ist das alles vielleicht meine Schuld? Siehst du! Pass auf, ich mach dir einen Vorschlag. Wir stehen das gemeinsam durch, okay? Und die Wohnungsauflösung, die machen wir auch zusammen. Stell dir vor, sogar deine Frau Gubler hat angeboten zu helfen!«
    »Sie ist nicht meine Frau Gubler!«, schrie ich beinahe.
    Pascal sah mich aus schmalen Augen an. Jetzt hatte er mich erwischt, das wussten wir beide. »Du bist ganz schön ungerecht, weißt du das?«, fragte er. »Die Frau ist nett! Sie will dein Bestes – genau wie ich. Komm endlich runter von deinem hohen Ross und gib ein paar Leuten eine Chance!«
    Der Nachmittag endete damit, dass Meggi und ich Pascal halfen, seine Kisten einzuräumen. Meggi fand ihn nachher sogar sehr nett. Aber ich, ich kam mir vor, als legte ich eigenhändig mein ganzes Leben in Trümmer.
    Pascal schien das zumindest zu ahnen. »Lilly, das fällt doch gar nicht auf, dass überhaupt etwas fehlt!«, sagte er ein ums andere Mal und rückte Bücher im Regal herum, um die Stellen auszufüllen, an denen er etwas herausgenommen hatte.
    Ich sagte nichts. Nur als er anfing, uns zu fragen, ob wir nicht in die WG mitfahren und »die Jungs« kennen lernen wollten, schnitt ich ihm kurzerhand das Wort ab: »Das glaubst du doch wohl selbst nicht«, gab ich kühl zurück.

9
    Und während Eisblumen an den Fensterscheiben wuchsen und niemand merkte, wie alles um mich barst und splitterte, passierte es tatsächlich. In einem anderen Teil der Welt bebte die Erde, rissen Gräben auf, stürzten Menschen vom Schlaf in den Tod. Meine Mutter hatte er sich geholt, aber das reichte ihm nicht, jetzt holte er tausende in der kleinen Stadt Spitak. Ich träumte, dass ich mit bloßen Händen im Schutt grub. In der Fußgängerzone verkaufte meine Klasse Kuchen für Armenien, doch ich wollte jemanden auferstehen sehen. Das Fernsehen zeigte Gerettete, nach Tagen noch. Nächtelang träumte ich davon.
    Mittwoch, das hatten wir so ausgemacht, war Frau-Gubler-Tag.
    Beim ersten Mal brachte sie mir ein flaches Päckchen mit, das ich misstrauisch öffnete. Es enthielt ein kleines stoffgebundenes Buch, abschließbar. »Damit du alle Gedanken aufschreiben kannst, die dir jetzt durch den Kopf gehen«, erklärte sie mir. Ich sagte höflich Danke. Ich wollte nichts aufschreiben, ich wollte Antworten haben! Aber das Tagebuch habe ich immer noch. Es ist abgeschlossen, obwohl nichts drinsteht, und den Schlüssel muss ich wohl verloren haben.
    Beim zweiten Mal warteten andere Überraschungen auf mich. Eine parkte auf der Straße in der Autoreihe, wenige Meter von unserem Haus entfernt. Es war Mamis BMW, blank geputzt und mit einem großen Schild im Seitenfenster: ZU VERKAUFEN – SCHNÄPPCHEN! Darunter standen der Preis und Pascals neue Telefonnummer. Ich fiel über den kleinen Hund, der ans nächste Auto pinkelte, weil ich weitergegangen war, ohne meine Augen von dem Schild zu wenden. »Hast du keine Augen im Kopf?«, schimpfte die Hundebesitzerin, als sie meinen Fuß aus der Leine wickelte.
    Ich fuhr im Aufzug nach oben und versuchte ruhig zu bleiben. »Wir gehen eure Sachen durch und schauen, was du behalten willst«, hatte Frau Gubler gesagt. Das klang vernünftig, und dass

Weitere Kostenlose Bücher