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Lilly unter den Linden

Lilly unter den Linden

Titel: Lilly unter den Linden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne C. Voorhoeve
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Nachdruck. »Wenn du mal Hilfe brauchst, der alte Pascal ist für dich da. Das weißt du doch.«
    Die Maklerin stieß mit Schwung die halb angelehnte Wohnzimmertür auf und steuerte den Balkon an, ein Ehepaar mittleren Alters erwartungsvoll im Schlepptau. Ich erschrak, als ich die beiden sah. Ich kannte sie, sie hießen Baecker, ihre Tochter Julia war in meine Klasse gegangen – vor einer Ewigkeit von etwa vier Monaten. Nun würde sie also in meinem Zimmer wohnen. Ich hatte nichts gegen Julia, aber irgendwie wäre mir lieber gewesen, nicht zu wissen, wer unsere Wohnung bekam.
    »Und hier haben Sie dann die volle Morgensonne!«, verkündete die Maklerin.
    »Wo willst du hin, Lilly?«, rief Pascal.
    Ich weiß nicht mehr genau, wann ich die Idee hatte. Vielleicht wachte ich einfach damit auf. Vielleicht schlug ich morgens die Bettdecke zurück und dachte: Aber natürlich.
    Es muss so gewesen sein, denn als ich nach dem Maklertermin ins Internat zurückkam, lag der Straßenatlas, den ich mir als Andenken aus dem BMW mitgenommen hatte, noch aufgeschlagen da. Ich fuhr die Strecke mit dem Zeigefinger ab: Hamburg – Berlin – Jena. Die beiden Grenzübergänge: kleine schwarze Dreiecke im weißen Kreis, die die Straße durchschnitten. Wenn man seine Hand spreizte, konnte man die ganze Strecke in zwei Schritten umfassen.
    Nein, ich war nicht so naiv zu glauben, dass es so einfach sein würde. Aber ganz bestimmt trug die geringe räumliche Entfernung zwischen Lena und mir dazu bei, dass aus der Idee innerhalb kürzester Zeit ein Plan wurde. »Das ist nicht mal halb so weit wie in den Skiurlaub«, erklärte ich Meggi.
    Allen gegenteiligen Behauptungen zum Trotz: Ich habe anfangs keinen Moment daran gedacht, abzuhauen, wirklich nicht. Ich dachte, mit einem Umzug in die DDR verhielte es sich so wie mit allen größeren Veränderungen im Leben: Man informiert sich, man entscheidet sich, man bewegt sich. Andererseits hielt mich irgendetwas davon ab, mich von Frau Gubler informieren zu lassen, von der ich immerhin annahm, dass sie alles wusste, was es über die Zusammenführung von Waisenkindern mit ihrer Verwandtschaft zu wissen gab.
    Tief in meinem Inneren muss es da wohl doch eine leise Ahnung gegeben haben, dass mein Ansinnen das Vorstellungsvermögen und die Beweglichkeit mancher Erwachsenen weit übertreffen würde …
    Tagelang erzählte ich überhaupt niemandem davon. Ich machte traumverlorene Spaziergänge am Alsterufer und malte mir meine Zukunft aus; ich dachte daran, wie Lena und ich Steine ins Wasser geworfen und wie, viel früher, Mami und ich beinahe an derselben Stelle einen Flötenspieler getroffen hatten. Ich sah es noch genau vor mir: ein früher Sonntagmorgen, niemand außer uns war unterwegs, aber er spielte unbeirrt seine wunderschöne Melodie zu Ende und lächelte uns freundlich an. Während Mami ihr Portmonee öffnete, nahm ich all meinen Mut zusammen.
    »Warum«, fragte ich schüchtern, »spielen Sie denn hier, wo niemand zuhört?«
    »Aber Lilly«, murmelte Mami verlegen, legte dem alten Mann ein Markstück in den Flötenkasten und wollte mich weiterziehen.
    Doch der Flötenspieler dachte eine Weile über meine Frage nach, und schließlich sah er mich ernst an. Ich war damals sieben oder acht Jahre alt und habe die Begegnung nie vergessen.
    »Gerade wenn einem niemand zuhört, ist es wichtig zu spielen«, erklärte er.
    Es klingt verrückt, aber von dem Augenblick an, wo ich meinen Plan gefasst hatte, hatte ich tagelang eine fröhliche Melodie im Ohr. Meine Schritte waren leicht, und als ich einmal im Vorübergehen einen kleinen flachen Stein aufhob und ihn ohne zu überlegen aus dem Handgelenk in die Alster warf, da hüpfte und tanzte er auf der Oberfläche, dreimal, viermal, fünfmal, und wenn die Sonne mich nicht geblendet hätte, hätte ich vielleicht noch öfter zählen können.

11
    Einen Plan zu haben ist eine Sache, die beste Freundin zu überzeugen eine ganz andere. »Du spinnst!«, sagte Meggi mir direkt ins Gesicht. »Niemand geht in die DDR – alle sind heilfroh, wenn sie da wegkommen! Davon wirst du doch auch schon gehört haben – dass Leute sich lieber auf der Flucht abknallen lassen, als in der DDR zu bleiben!«
    »Ja, aber …«
    »Dass es kaum etwas zu kaufen gibt, dass die Häuser verfallen, dass die Leute jahrelang auf einen Fernseher sparen müssen!« Meggi redete sich allmählich warm und ich wagte nicht sie zu unterbrechen. »Dass viele nicht mal Telefon haben und auf

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