Lilly unter den Linden
Zornestränen in die Augen schossen, während ich mich daran machte, meine Sachen ins Wohnzimmer zu schleppen. Lieber wollte ich mich unter dem Esstisch zusammenrollen als noch ein einziges Mal Katrins Drachenhöhle betreten! Und wenn sie mich auf Knien bitten sollte …!
Die Wohnungstür ging auf und Lena und Onkel Rolf betraten gut gelaunt ihr friedliches Heim. »Nanu, Lilly, wo willst du denn hin?«, fragte Lena verblüfft, als sie mich mit dem Rucksack sah.
Till holte tief Luft. »Katrin sagt, Lilly darf tagsüber nicht in ihr Zimmer!«, teilte er ihr aufgeregt mit. »Sie muss jeden Morgen ihre Sachen mit nach draußen nehmen!«
Lenas Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen. Ihr Mund wurde ein einziger dünner Strich. Ich hätte nie für möglich gehalten, dass meine herzensgute Lena so bösartig dreinblicken konnte, und ging unwillkürlich einen Schritt zurück, aber die zu erwartende Explosion galt natürlich nicht mir. Lena drehte sich auf dem Absatz um und marschierte in Katrins Zimmer. Das Letzte, was wir hörten, bevor sie die Tür hinter sich zuknallte, waren ihre Worte: »Das wollen wir doch erst mal sehen.«
Till und Onkel Rolf sahen sich an. »Au Backe«, murmelte Till erwartungsvoll.
Wir standen im Flur, ich immer noch mit meinem halb offenen Rucksack in den Händen. Ich fühlte mich ziemlich mies. Seit ich vor nicht einmal vierundzwanzig Stunden ostdeutschen Boden betreten hatte, hatten meine Verwandten die Polizei im Haus gehabt und sich mit der Staatssicherheit auseinander setzen müssen, hatten Lena mit Rolf, beide mit Katrin und Katrin mit mir gestritten, ein Weihnachtsessen war kalt geworden und ich hatte nicht mitgezählt, wie viele Türen seitdem geknallt worden waren.
Hinter der Zimmertür hörte man Katrin schreien: »Sag mal, spinnst du? Lass meine Sachen in Ruhe!«
Lena war anscheinend geradewegs auf Katrins Kleiderschrank zugeschossen und hatte damit begonnen, einen Teil der Fächer für mich freizuräumen. »Kannst du mir verraten, was wir deiner Meinung nach tun sollen?«, donnerte sie dabei zurück.
»Schickt sie nach Hause!«, brüllte meine Cousine.
»Und wo, glaubst du, ist ihr Zuhause?«
»Was geht mich das an? Soll sie sich bei ihrer Mutter bedanken, die ist schließlich abgehauen. Oder ihr Vater – was braucht der auf einen Berg zu klettern? Die haben sich auch keine Gedanken um andere gemacht. Warum soll ich das jetzt?« Man hörte Schläge gegen die Schranktür, als Katrin sich auf ihre Mutter stürzte und versuchte, ihr die Kleiderstapel zu entreißen.
»Du machst mir Angst, Katrin«, hörte ich Lena sagen. »Manchmal habe ich das Gefühl, ich kenne dich überhaupt nicht.«
Und dann geschah etwas Rätselhaftes. Katrin erwiderte mit einer Stimme, die vor Bitterkeit ganz tief war: »Kann ich gut verstehen. Ich würde mein Kind vielleicht auch nicht lieben, wenn ich die ersten drei Jahre ausgelöscht hätte.«
Bei diesen Worten schien ein Ruck, geradezu ein Blitz meinen Onkel zu durchfahren. Er schoss auf mich zu und nahm mir meine Gepäckstücke aus der Hand. »Wie wäre es mit einem schönen heißen Kakao?«, fragte er in ungewohnter Lautstärke. »Von unserem Weihnachtskuchen ist auch noch genug da.«
Ich stand wie erstarrt. »Weißt du eigentlich, wie ich um dich gekämpft habe?«, drang Lenas erregte Stimme durch die Tür. Sie hörte sich an, als ob sie Katrin dabei schüttelte. »Wie ich getreten und gekratzt und das ganze Haus zusammengeschrien habe …«
Onkel Rolf nahm Till und mich am Arm und führte uns kurzerhand in die Küche, wo er die Tür fest hinter uns schloss. »Was hast du denn da im Gesicht?«, fragte er und berührte den Kratzer an meiner Wange. »Möchtest du ein Pflaster?«
»Nein, danke«, sagte ich mit piepsiger Stimme. »Ist nicht so schlimm.«
Aber Onkel Rolf suchte mit großem Getöse in den Schubladen herum, förderte schließlich ein Verbandskästchen zu Tage und klebte mir ein Pflaster ins Gesicht.
»Das sieht aber nicht gut aus, Papa«, wandte Till ein.
Die Tür ging auf und Lena kam herein. Sie war kreidebleich, aber sprach mit ganz normaler Stimme, während sie mich wieder in Katrins Zimmer zurückführte. »So, Lilly«, sagte sie, »wir zwei räumen jetzt deine Sachen hier in den Schrank. Das bekommt ihnen viel besser, als wenn sie im Rucksack vor sich hin muffeln.«
Ich sah ihr zu, wie sie meinen Rucksack ausräumte und wie ihre Hände dabei zitterten. Ich hätte gern geweint, obwohl ich gar nicht wusste, warum. Von
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