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Lilly unter den Linden

Lilly unter den Linden

Titel: Lilly unter den Linden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne C. Voorhoeve
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einfach aufhören würdest zu lenken …
    Dann lag wieder die Straße vor uns, gerade und überschaubar. Wir verloren an Tempo. Till standen Tränen in den Augen, und ich weiß nicht, ob es nur vom Fahrtwind kam. Ich fasste an meine Wange und hatte Blut an den Fingern.
    »Du hast gewonnen«, sagte ich mit völlig normaler Stimme.
    Er wischte sich übers Gesicht und antwortete nicht. Den ganzen Weg zurück nach Hause sprach er kein Wort mehr mit mir. Er radelte stumm und verbissen vor mir her, sein Blondschopf wippte über dem blauen Anorakkragen und ab und zu tastete seine Hand nach hinten zum Gepäckträger, um trotzig die provisorische Fahnenstange für den FC Carl Zeiss Jena wieder aufzurichten. Kurz bevor wir in unsere Straße einbogen, machte ich einen Versuch, mich zu entschuldigen, aber er wollte nichts davon hören.
    »Du hast ’ne Macke«, sagte er. »Aber ich war trotzdem schneller.«
    Als wir unsere Fahrräder in den Hinterhof schoben, klang uns Musik und Gesang entgegen. Beides kam aus dem Gartenhaus, in dem ich einen nicht unbeträchtlichen Teil des gestrigen Abends verbracht hatte, und es dauerte einen Augenblick, bis ich Lenas Stimme erkannte. Verblüfft sah ich Till an.
    »Mama hat morgen einen Auftritt mit ihrer Band«, erklärte er stolz.
    Wir schauten durchs Fenster, Lena und Onkel Rolf sahen uns nicht. Onkel Rolf saß neben Lena auf dem Klavierhocker, und Lena schlug in die Tasten und sang ein fröhliches Lied von einer Bombe. Es ging darum, dass man stets ein weißes Laken mit sich führen und dies im Falle eines Falles so benutzen sollte: »Fällt die Bombe, Luft anhalten, hingelegt, das Tuch entfalten, und nach fünf Minuten ist’s vorbei.« Ich war sehr erstaunt, dass Lena singen und Klavier spielen konnte, aber mehr noch darüber, dass Onkel Rolf zur Abwechslung einmal ganz entspannt wirkte. Er sah richtig fröhlich aus, beugte sich, als Lena fertig war und ihn erwartungsvoll ansah, zu ihr hinüber und gab ihr einen Kuss. Für ein altes Ehepaar küssten sie sich ziemlich lange.
    Ich fühlte mich plötzlich getröstet. Ja, es stimmte, Lena hatte wegen Mami ihre Arbeit verloren. Aber sie war trotzdem fröhlich und zufrieden, sie hatte einen Mann, der sie küsste, und eine Familie, die sich soeben vergrößert hatte. Sie war nicht tot wie meine Mutter, sie hatte ein Leben vor sich und jeden Tag Dinge, auf die sie sich freuen konnte. Es gab überhaupt keinen Grund, Lena zu bedauern – oder? Ein leiser Zweifel blieb und setzte sich in mir fest, noch während Till und ich die Treppe in den vierten Stock hinaufstapften.
    Oben in der Wohnung wusch ich mir die Blutspuren ab, die die Abfahrt vom Fuchsturm auf meinem Gesicht hinterlassen hatte. Aus Katrins Zimmer tönte Gitarrenspiel. Sie trommelte für meine Begriffe ziemlich unmelodisch auf dem Instrument herum; es schien weniger um Musik als um Lärm zu gehen. Ich hatte keine Ahnung, dass sie an diesem Vormittag eine ernste Unterredung mit ihren Eltern gehabt hatte, bei der es – wie konnte es anders sein – um mich gegangen war. Wie man sich denken kann, hatten sie sich nicht gerade einvernehmlich getrennt. Umso trotziger und wütender schlug Katrin auf der Gitarre herum, und umso herzlicher war der Empfang, den sie mir bot, als ich kühn das Zimmer betrat, um etwas aus meinem Rucksack zu holen. »Was ist, was willst du hier?«, herrschte sie mich an.
    »Na, ich hab doch meine Sachen …«, begann ich, aber weiter kam ich nicht. Katrin warf ihre Gitarre aufs Bett und pflanzte sich vor mir auf. »Ich will dir mal was sagen. Du schläfst zwar auf meiner Couch, aber das heißt nicht, dass du hier nach Herzenslust herumturnen kannst! Das ist immer noch mein Zimmer!«
    »Aber Katrin«, wandte ich hilflos ein.
    »Aber Katrin!«, äffte sie mich böse nach. »Nimm deinen Kram und dann raus hier. Und so machen wir das jetzt jeden Morgen. Wäre doch gelacht, wenn wir die paar Tage nicht auch noch überstehen.«
    In der Tür gab es ein kleines Geräusch. Till stand an den Rahmen gelehnt und hörte mit grimmigem Gesicht zu. »Wieso … paar Tage?«, wiederholte ich.
    »Bis sie dich wieder nach Hause schicken. Du glaubst doch nicht im Ernst, dass du hier bleiben kannst«, sagte meine Cousine kalt.
    Ich raffte meinen Rucksack zusammen, verließ ohne ein Wort das Zimmer und knallte sogar die Tür hinter mir zu.
    »Jetzt reicht es mir«, sagte ich zu Till, aber ich konnte nicht verhindern, dass meine Stimme verdächtig zitterte und dass mir

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