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Lilly unter den Linden

Lilly unter den Linden

Titel: Lilly unter den Linden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne C. Voorhoeve
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Katrin war nichts zu sehen. Als Till mir von der Tür aus ein Zeichen gab, ging ich mit ihm in die Küche zurück. Ich glaube, Lena merkte gar nichts davon.
    Vom Küchenfenster aus sahen wir, wie Katrin einen kleinen Koffer und ihre Gitarre über den kleinen Hof ins Gartenhaus schleppte. »Sie zieht mal wieder aus«, erklärte Till. »Spätestens zum Abendessen ist sie wieder da.«
    Aber Katrin war weder zum Abendessen zurück noch später, als wir alle zu Bett gingen. Sie verbrachte die ganze Nacht in dem kalten, dunklen Gartenhaus und auch beim Frühstück sah es nicht so aus, als hätte sie die Absicht, wieder nach Hause zu kommen.

17
    Der Speicher war riesengroß, hatte mehrere von Tauben verdreckte Dachgauben und einen Linoleumboden, der Risse und Falten warf und schon den Krieg überlebt hatte. Zwischen den Giebeln waren Wäscheleinen gespannt, es war eiskalt.
    »Hier habe ich mich als Kind verkrochen, wenn ich meine Ruhe haben wollte«, sagte Lena und sah sich um. »Das Gartenhaus gab es zu der Zeit noch nicht. Da, das Sofa war mein Lieblingsplatz. Vorsicht, die Sprungfedern gucken schon heraus!«
    Sie ließ sich aufs Sofa fallen und lachte. Als ich mich neben sie setzte, legte sie den Arm um mich, zog mich zu sich heran und vergrub ihr Gesicht in meinem Haar. »Es mag nicht immer so aussehen«, murmelte sie mir ins Ohr, »aber es ist gut und wichtig für uns alle, dass du hier bist.«
    »Aber ich bringe alles durcheinander«, sagte ich niedergeschlagen.
    »Das wird auch Zeit!«, meinte Lena. »Man findet sich viel zu schnell mit den Dingen ab. Aus Bequemlichkeit, Gewohnheit …«
    »Genau das hat Mami auch immer gesagt. Sie hatte Angst, dass ich mich mit der Mauer abfinde.«
    »Die Gefahr besteht, dass wir das alle tun«, gab Lena zurück. »Wir vergessen, dass das nicht nur eine Mauer durch ein Land ist. Das ist eine Mauer mitten durch Familien hindurch – und manchmal mitten durch dein Herz, weil du dich für eine Seite entscheiden musst. Das kann die schwerste Entscheidung deines Lebens sein … das Weggehen, aber auch das Bleiben. Ob es richtig war, weißt du vielleicht nie. Aber eins ist sicher: Niemand hat das Recht, dir deine Entscheidung abzunehmen oder gar darüber zu urteilen.«
    »Auch nicht, wenn andere dafür büßen müssen?«, fragte ich leise.
    Lena warf mir einen raschen Seitenblick zu. »Meinst du etwas Bestimmtes?«, fragte sie tastend.
    »Deine Arbeit«, sagte ich unglücklich.
    »Ach, das!« Ich konnte mich irren, aber Lena sah erleichtert aus. »Was ist denn schon dabei? Nun mache ich eben etwas anderes. Übrigens kann auch bei euch nicht jeder in dem Beruf arbeiten, den er gelernt hat.«
    »Das stimmt, da hast du Recht«, gab ich zu.
    Lena zauste liebevoll mein Haar und stand auf. »Dann wollen wir mal im Staub unserer Erinnerungen wühlen«, meinte sie.
    Ich hatte Lena nicht zu fragen brauchen, ob sie noch Sachen von Mami besaß – sie war selbst auf die Idee gekommen. Nach dem Frühstück hatte sie vorgeschlagen, uns warm anzuziehen, auf den Speicher zu gehen und einen Blick in die Kisten zu werfen, die dort oben seit fast fünfzehn Jahren herumstanden.
    »Was ist denn da drin?«, hatte ich begierig gefragt.
    »Keine Ahnung«, gestand Lena. »Rolf hat alles eingepackt, ich habe nie nachgesehen … es tat mir einfach zu weh.«
    Vielleicht hatte ich mir von den Hinterlassenschaften meiner Mutter mehr versprochen. Es gab Fotos, Schulhefte, Tagebücher in kindlicher Schrift, ein Poesiealbum, Zeichnungen und zwei oder drei kurze Briefe an ihre Eltern, in denen sie Abbitte für irgendwelche kleinen Vergehen leistete. In jedem kleinen Stück suchte ich nach späteren, vertrauten Zügen, aber all dies hätte gar nichts in mir ausgelöst, hätte sich Lena nicht an so manche Geschichte erinnert, die sie dazu erzählen konnte und mir zuliebe wohl auch ein wenig ausschmückte. Ich trug die spätere Zeit bei, und obwohl letztlich alles so traurig ausgegangen war, erinnere ich mich, dass wir die meiste Zeit lachten und großen Spaß hatten. Wir verbrachten Stunden auf dem Speicher und wir spürten wohl beide, dass es nicht die Andenken in den Kisten waren, die zu uns sprachen. Es waren die Bilder in uns selbst. Es gab nur eine wirklich lebendige Erinnerung an Mami und das waren Lena und ich.
    Lena und ich. Endlich, endlich war es so, wie ich es mir die ganze Zeit ausgemalt und ersehnt hatte. Wir saßen ganz nah beieinander und schauten in die Alben, machten kleine Kästchen auf und

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