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Lilly unter den Linden

Lilly unter den Linden

Titel: Lilly unter den Linden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne C. Voorhoeve
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anzustellen, ob Pascal sich, während wir hier saßen, wirklich im Flugzeug nach Acapulco befand oder nicht vielmehr in einem finsteren Kerker des Bundesgrenzschutzes. Seine Spekulationen machten mich richtig nervös.
    »Er würde keinen Ärger bekommen, wenn er dein Stiefvater wäre«, überlegte Till. »Warum war deine Mutter eigentlich nicht verheiratet?«
    »Weil mein Vater kurz vorher gestorben ist. Danach wollte sie nicht mehr«, sagte ich und war froh, dass er von Pascal abließ.
    »Das ist aber doch ein bisschen blöd für dich, oder?«, fragte Till teilnahmsvoll. »Ich jedenfalls bin froh, dass ich zwei Elternteile habe. Wenn einem etwas passiert, habe ich wenigstens noch den anderen. Ich kenne sogar jemanden mit fünf Elternteilen: Mutter, Vater, Stiefmutter, Stiefvater und die ehemalige Frau vom Stiefvater. Das finde ich ein bisschen viel. Da blickt doch keiner mehr durch. Aber besser zu viel als zu wenig, oder?«
    »Würde es dir etwas ausmachen, das Thema zu wechseln?« Um nichts in der Welt hätte ich zugegeben, dass er Recht hatte.
    »Entschuldigung.« Till zog unwillkürlich den Kopf ein wenig ein. Dann fragte er: »Na, was ist? Kannst du wieder? Steigen wir auf den Turm?«
    Oben war es zugig und kalt, einige Krähen flogen ärgerlich vor uns davon, aber Till hatte nicht zu viel versprochen: Uns bot sich ein weiter Blick über die Stadt und ihre waldreichen Hügel und Täler. Die Fenster des Universitätshochhauses, das in Mamis Jugend erbaut worden war und wie ein riesiger runder Heizlüfter über der Stadt aufragte, blitzten in der Sonne. Darum herum gruppierten sich die Häuser der Innenstadt, die gemütlich ihre kleinen Rauchwolken gen Himmel pafften. Till hatte ein Fernglas mitgebracht und half mir geduldig, unser Stadtviertel zu finden, seine Schule, Onkel Rolfs Verlagshaus, die Buchhandlung, in der Lena arbeitete …
    »Wieso Buchhandlung?« Ich ließ das Fernglas sinken. »Ich dachte, sie sei Lehrerin?«
    Till sah mich erstaunt an. »Durfte sie doch nicht mehr. Weißt du das nicht?«
    Ich schüttelte den Kopf. Till zögerte. »Sie hat halt nicht gut genug auf ihre kleine Schwester aufgepasst«, sagte er dann.
    Es dauerte einige Sekunden, bis ich begriff, worauf er anspielte. Und selbst dann konnte ich es kaum glauben. »Wegen Mami? Das kann doch nicht sein! Weil Mami abgehauen ist? Aber dafür konnte Lena doch nichts!«
    Ich muss ihn ganz entsetzt angestarrt haben, denn Till wurde vorsichtig. Man konnte sehen, dass es ihm Leid tat, das Thema überhaupt angeschnitten zu haben. »Sie hätte es halt melden müssen«, erklärte er widerstrebend. »Komisch, dass du das nicht wusstest.«
    Mein Kopf war auf einmal wie leer gefegt. Ich registrierte, dass ich immer noch mit Till auf dem Turm stand, das Fernglas in der Hand, dieselbe friedliche Winterlandschaft vor Augen wie noch vor zwei Minuten.
    Aber auf einmal waren auch die Grenzzäune wieder da, der Spiegel unter dem Auto und die ausgesperrten U-Bahnen unter den Straßen von Berlin.
    »Hör mal, das ist lange her«, versuchte Till zu beschwichtigen. »Mach dir nichts daraus. Mama ist jetzt den ganzen Tag mit Büchern zusammen. Für meine Eltern gibt es nichts Schöneres! Katrin sagt, es ist ein Wunder, dass es uns überhaupt gibt, weil sie im Bett immer nur lesen.«
    Ich gab ihm das Fernglas zurück. Till sah mich unsicher an.
    »Wollen wir jetzt bergab fahren?«, fragte er zaghaft. Er merkte wohl, dass meine Freude an dem Ausflug ein jähes Ende genommen hatte.
    Ich gab mir einen Ruck. »Klar, warum nicht. Machen wir ein Rennen?«
    »Ja!«, jubelte Till und rannte schon vor mir die steilen Treppenstufen herunter.
    Der kalte Wind peitschte mir ins Gesicht, als wir die kurvenreiche Straße nach Ziegenhain zurückrasten. Till fuhr auf seinem schnellen neuen Rad eine halbe Fahrradlänge vor mir, er hing über dem Lenkrad wie ein Jockey und blickte sich dauernd zu mir um. Ich sah, wie er das Gesicht verzerrte und ab und zu die Bremsen betätigte – hin und her gerissen zwischen dem Vorsatz, zu gewinnen, und der Angst, dass die Fahrt immer schneller und unkontrollierbarer wurde. Der Arme muss verzweifelt gehofft haben, dass ich endlich die Nerven verlor und in die Bremsen trat, bevor wir beide aus der Kurve flogen. Ich weiß auch nicht, was in mich gefahren war. Bäume und Büsche rasten an mir vorbei, kamen direkt auf mich zu, ein Zweig schlug wie ein Peitschenhieb an meine Wange. Dabei hatte ich den verrückten Gedanken: Wenn du jetzt

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