Lilly unter den Linden
einem Plakat stehen und las vor: » Wer den Frieden will erhalten, muss kämpfen gegen im-pe-ri-a-listische Gewalten. – Verstehst du das?«
»Klar«, sagte Till frohgemut. »Die Imperialisten seid ihr.«
Das schwierige Wort kam ihm völlig problemlos über die Lippen. Ich fiel aus allen Wolken. »Wir? Aber was heißt denn das überhaupt?«
Tills Gesicht wurde lang. »So weit sind wir in der Schule noch nicht gekommen«, gab er widerwillig zu, um gleich darauf mit heller Stimme auszurufen: »Schau Lilly, da kommt die Elektrische!«
Ich sah mich alarmiert um. Ein durchdringendes Quietschen und Schleifen näherte sich von der nächsten Straßenecke her, als wären Kettenfahrzeuge losgeschickt worden, um Witterung von mir aufzunehmen. Sekunden später entpuppte sich die »Elektrische« als eine winzige gelbe Straßenbahn, die wie eine Leihgabe von einem Kinderkarussell aussah, und schepperte mit einem Höllenlärm auf uns zu.
»Da sollen wir mit den Rädern reinpassen?«, fragte ich ungläubig und manövrierte mein Fahrrad, das ich fluchtbereit herumgerissen hatte, etwas verschämt wieder zurück.
»Also, du kannst Fragen stellen«, sagte Till kopfschüttelnd.
Die »Elektrische« war sogar noch billiger als eine Fahrt auf dem Kinderkarussell. Sie kostete ganze 10 Pfennig für jeden von uns, Fahrrad inklusive, und fuhr uns dafür einige Kilometer aus der Stadt heraus in die malerisch gelegenen Vororte. Genießen konnte ich die Fahrt allerdings nicht. Ich fragte mich, wie ich mich verhalten sollte. Ich hatte nicht geahnt, dass sie hier tatsächlich Plakate gegen uns aufhängten! Wenn mich nicht alles täuschte, riefen sie darin sogar zum Kampf gegen uns auf! Verstohlen sah ich mich in der Straßenbahn um. Die Passagiere sahen allesamt ziemlich harmlos aus, aber was würde geschehen, wenn sie entdeckten, wer hier mitten unter ihnen saß? Würde ich überhaupt noch dazu kommen, herauszuschreien, dass auch wir im Westen nichts anderes wollten als den Frieden? Visum hin oder her, ich war richtig froh, als wir am Ziel ankamen, aussteigen und uns auf unsere Räder schwingen konnten. Ich trampelte wie verrückt, um von der Haltestelle wegzukommen.
Das hätte ich besser gelassen. In einer nicht enden wollenden, schweißtreibenden Tour hatte ich bergan zu keuchen und mir dämmerte bald, warum Lena mich vor Tills Ausdauer gewarnt hatte. Als Bewohnerin des norddeutschen Flachlands war ich schon nach dem ersten Anstieg völlig außer Atem, während mein Cousin gleichmäßig wie ein Uhrwerk in die Pedale trat und dabei noch ununterbrochen quasseln konnte. Dass ich immer weiter zurückfiel und ihn zum Schluss gar nicht mehr hören konnte, störte ihn überhaupt nicht, und ehrlich gesagt war auch mir innerhalb kürzester Zeit völlig egal, was aus Till wurde. Ich hatte nur noch Augen für den Hügel mit seinem Aussichtsturm, der mal zum Greifen nahe schien, mal für längere Zeit aus dem Blickfeld verschwand. Immer, wenn ich ihn über den Baumwipfeln wieder entdecken konnte, war ich mir sicher, dass wir weiter davon entfernt waren als zu Beginn unserer Tour. Mir hing buchstäblich die Zunge aus dem Hals, als wir endlich oben ankamen.
Till musterte mich kritisch und schätzte die Lage richtig ein. Bevor wir die Treppen zum Turm erklommen, verordnete er uns erst einmal ein Picknick. Ich hievte mich mit letzter Kraft zum Sitzen auf die Mauer und ließ mir dankbar einen heißen Tee und eine Stulle reichen, wie ich das Butterbrot bereits völlig korrekt nennen konnte.
Leider war die Stulle mit Nuss-Nugat-Creme bestrichen, die ich nicht ausstehen kann. Ich versuchte mir nichts anmerken zu lassen, aber Till entging es trotzdem nicht. »Schmeckt es dir nicht?«, fragte er vorwurfsvoll. »Das ist Nudossi, das gibt es fast nie!«
Er nahm mir meine Stulle wieder weg und biss kräftig und, wie mir schien, ein wenig provozierend hinein. »Wenn du’s nicht willst, gib es lieber mir.«
Schuldbewusst sah ich ihm beim Essen zu. Zweifellos hielt er mich nun für eine arrogante Kuh und es würde die Sache auch nicht besser machen, wenn ich ihm erklärte, dass ich mich als Kind an unserem Nutella schlicht und einfach überfressen hatte!
Aber Till war nicht lange beleidigt; ganz offensichtlich überwog die Freude darüber, dass er unerwartet an ein zweites Nudossi-Brot gekommen war. Er mampfte zufrieden und nutzte das Picknick, um mich mit vollen Backen über alle Einzelheiten meiner Flucht auszufragen und Vermutungen darüber
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