Lilly unter den Linden
staunten über die Schätze, die meine Mutter aufgehoben hatte, als sie so alt war wie ich. Ich war glücklich. Ich liebte meine wunderbare Tante Lena von ganzem Herzen und so sehr, dass ich da oben auf dem Speicher fast schon wieder weinen musste. Und Lena war so fröhlich und liebevoll, als ob es Katrin und den ganzen Ärger mit ihr überhaupt nicht gäbe.
Am Abend zuvor hatte ich sie beobachtet, als sie ganz still am Küchenfenster stand und auf das kleine Licht schaute, das hinter dem Fensterchen des Gartenhauses brannte. Ich hatte mir vor dem Zubettgehen noch etwas zu trinken holen wollen und stand bestimmt eine volle Minute unschlüssig an der Küchentür, ohne dass Lena mich bemerkte. Plötzlich legte mir Onkel Rolf von hinten die Hand auf die Schulter und schob mich in die Küche, und Lena zuckte zusammen und drehte sich zu uns um. Sie waren beide im Pyjama; wir alle waren schon vor einer guten Stunde zu Bett gegangen, aber offenbar war ich nicht die Einzige, die nicht schlafen konnte. »Ist das Buch so langweilig?«, fragte Onkel Rolf, an Lena gewandt, und zu mir sagte er: »Ich bilde mir was ein auf meine Vorleserei, und deine Tante steht einfach auf und geht.«
»Verzeih«, sagte Lena und gab ihm einen Kuss. »Möchtest du auch einen Tee?«, fragte sie mich und machte sich am Herd zu schaffen, wo sie einen Wasserkessel aufgesetzt hatte. »Es dauert aber noch ein paar Minuten.«
Wir sahen zu, wie sie die Teekanne heiß ausspülte, ein Teesieb füllte, es in die Kanne hängte. »Darf ich das machen?«, fragte ich. »Ich serviere euch den Tee, das mache ich gern!«
Lena sah mich überrascht an, dann lächelte sie. »Weißt du denn, wo alles ist?«
»Klar. Ich habe doch schon zweimal abgetrocknet!«
»Na gut. Dann lassen wir uns mal überraschen«, meinte Lena, nahm Onkel Rolf bei der Hand und ließ mich allein. Sie ließen ihre Schlafzimmertür offen stehen und kurz darauf hörte ich, wie er zu lesen fortfuhr.
Der Wellensittich schnarrte leise auf seiner Stange, als ich das Teewasser in die Kanne goss. Im Wohnzimmer tickte die Standuhr. Als ich wieder zum Fenster blickte, sah ich, wie im Gartenhaus das Licht gelöscht wurde, auch Katrin hatte sich schlafen gelegt. Ich stellte die Teekanne und zwei Tassen auf ein kleines Tablett und trug alles vorsichtig ins Elternschlafzimmer.
Onkel Rolf hatte Lena im rechten Arm, hielt mit der Linken sein Buch und las laut aus einem Roman vor. Sie sahen beide ziemlich süß aus, wie sie mich über den Rand ihrer Lesebrillen anlächelten. (Auch Lena trug eine Brille, weil sie die Seiten umblättern musste – Onkel Rolf hatte schließlich keine Hand mehr frei.)
Ich stellte das Tablett auf Lenas Nachttisch und goss Tee in ihre Tassen, ohne die beiden anzusehen. Es machte mich unerwartet verlegen, ihr Schlafzimmer zu betreten. »Na dann prost«, sagte ich, reichte ihnen die Tassen und wollte mich gleich darauf verdrücken.
Lena streckte die Hand nach mir aus. »Gutenachtkuss!«, verlangte sie.
»Lena«, murmelte Onkel Rolf. »Lilly ist dreizehn! Sie ist kein Baby mehr!«
»Für mich schon«, sagte Lena. »Ich lerne sie doch gerade erst kennen. Für mich ist sie genau vier Wochen alt.«
Sie streckte immer noch die Hand aus. Ich küsste sie auf ihre weiche, kühle Wange. Ihre Lesebrille klackte an meine Nase, als sie ihre Stirn an meine legte.
Vor der Tür stand ich dann noch eine ganze Weile und hörte mit klopfendem Herzen zu, wie Onkel Rolf drinnen weiterlas. Irrte ich mich oder hatte Lena mir gerade sagen wollen, dass ich wie ein eigenes Kind für sie war? Verwirrt und glücklich schlüpfte ich in mein Bett zurück und vergaß ganz, dass ich eigentlich auch etwas hatte trinken wollen. Katrins leeres Bett strahlte Kälte aus. Ich verstand sie nicht. Ich lag in wohliger Wärme und stellte mir vor, wie es sein musste, in eine solche Familie hineingeboren zu werden. Lilly, die Ahnungslose …
Und so musste ich zwar an meine Cousine denken, als ich mit Lena auf dem Speichersofa saß. Aber diese Minuten waren für mich einfach zu kostbar, um nach Katrin zu fragen.
»Das ist das letzte Bild«, sagte Lena schließlich. »Da war Rita sechzehn. Es ist kurz vor dem Unfall gemacht worden, bei dem unsere Eltern ums Leben kamen. Mit dem Auto übrigens, das du hier siehst.« Sie sah liebevoll auf das Foto. Ihre kleine Schwester und ihre Eltern … alle drei tot.
»Und der Rest?«, fragte ich. »Gibt es denn nichts aus der Zeit, als sie meinen Vater kennen gelernt
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