Lilly unter den Linden
Lippenstift. Aus meiner lesebebrillten Tante vom Vorabend war ein Rockstar geworden. Gänsehaut lief mir über den Rücken und ließ die Härchen auf meinen Armen permanent zu Berge stehen, mein Herz wollte geradezu den Brustkorb sprengen, schon beim dritten Lied befand ich mich in einer Art Ekstase. Von den Texten verstand ich nicht viel; sie waren mit politischen Anspielungen gespickt, die mir vollkommen rätselhaft waren. Aber mir reichte es, dass die Leute im Saal nickten und lachten. Till und ich platzten fast vor Stolz.
Als das letzte Lied vorbei war, brauchte ich Minuten, um mich zu erholen. Mechanisch machte ich mit, als alle trampelten, pfiffen und klatschten. Es gab noch zwei Zugaben, dann verließen The Mousetrap die kleine Bühne. »Na, was ist, Lilly? Möchtest du Lena nicht in der Garderobe besuchen?«, schlug Onkel Rolf vor. »Einfach die Treppe rauf, und dann ist es die zweite Tür auf der rechten Seite.«
Ich hoffte, dass er und Till mitkamen, aber für sie war das alles nichts Neues; sie wollten sich lieber mit dem jungen Pärchen an unserem Tisch unterhalten. So fasste ich mir ein Herz, drückte mich an den übrigen Zuschauern und dem Pantomimen vorbei, der mir auf der Treppe entgegenkam, und ging meine erstaunliche Tante suchen.
18
In der kleinen, engen Künstlergarderobe gab es einen Kleiderständer, einen Schminktisch mit einem großen Spiegel und ein Sofa. Bunte Poster früherer Veranstaltungen hingen an den Wänden. Lena saß vor dem Schminktisch, immer noch in ihrem raffinierten Kleid, und zog sich die Lippen nach. Sie lächelte mir zu, als sie im Spiegel bemerkte, wie ich durch die Tür schlüpfte.
Sandra, die Managerin der Kneipe, stand mit dem Rücken zu mir und hatte die Arme in die Seiten gestemmt. »Das letzte Lied war aber nicht abgesprochen, Lena«, sagte sie vorwurfsvoll.
»Ach, das biegst du doch wieder hin«, meinte Lena.
»Die werden immer nervöser in letzter Zeit«, gab Sandra zurück. »Ich möchte wirklich, dass wir vorher …«
Sie brach ab, folgte Lenas Blick und drehte sich zu mir um. Vorsichtig trat ich näher, legte von hinten die Arme um meine Tante und schaute uns im Spiegel an. »Du warst super!«, schwärmte ich.
Lena tätschelte meinen Arm. »Meine Nichte Lilly – Sandra«, stellte sie vor.
Sandra hob die Augenbrauen. Sie war einige Jahre älter als Lena und erinnerte ein wenig an die Bardame Kitty in »Rauchende Colts«: stark geschminkt und alles, was sie hatte, war in ein enges Kleid mit tiefem Ausschnitt gezwängt. »Lilly … ist das ein Künstlername?«, fragte sie.
»Nein, ich heiße wirklich so. Wegen Lena«, erwiderte ich stolz.
»Wie einst Lili Marleen …«, sang meine Tante, fuhr sich mit beiden Händen durchs Haar und erneuerte den ungewohnten Strubbellook ihrer Frisur. Ihr Auftritt war zwar zu Ende, aber offensichtlich mochte sie sich noch nicht so recht von ihrem Bühnenoutfit trennen. Sie trödelte herum und hatte es nicht besonders eilig, ihr Kostüm auszuziehen, die Garderobe zu verlassen und ins normale Leben zurückzukehren.
»Du siehst fantastisch aus«, sagte ich bewundernd.
»So?«, entgegnete Lena zufrieden. »Was ein bisschen Farbe ausmacht …!«
»Und ein Verlagslektor als Ehemann, der dir jedes Jahr etwas Schönes aus dem Westen mitbringt!«, fügte Sandra nüchtern hinzu.
Sie griff an Lena vorbei nach einem flachen Puderdöschen, doch Lena war schneller. Mit einer kurzen Handbewegung ließ sie es in ihrem Kosmetikkoffer verschwinden. »Das hat mir meine Schwester geschickt!«, entgegnete sie rasch..
Aber es war schon zu spät. »Aus dem Westen?«, wiederholte ich ungläubig. »Fährt Onkel Rolf denn jedes Jahr in den Westen?«
Lenas Lächeln erfror. Ihre Augen blickten in meine Richtung und zugleich wieder weg, als wolle sie mir ins Gesicht schauen, brächte es aber nicht fertig. Sie sah aus wie jemand, der bei einer Lüge ertappt worden ist. Das alles dauerte nur ein oder zwei Sekunden, aber ich wusste sofort Bescheid. »Nur kurz«, sagte sie tonlos. »Nach Frankfurt, zur Buchmesse.«
Das reichte. Ich drehte mich einfach um und ging. Ich ahnte mehr als dass ich sah, dass Lena sich auf ihrem Hocker umwandte und mir bestürzt nachschaute; ich fühlte ihren Blick in meinem Rücken, als ich wie blind durch die Tür und die Treppe hinunterging. »Was ist denn los?«, hörte ich Sandra noch verblüfft fragen. »Habe ich etwas Falsches gesagt?«
Draußen war es kalt und hatte angefangen zu nieseln. Junge Leute
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