Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Lilly unter den Linden

Lilly unter den Linden

Titel: Lilly unter den Linden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne C. Voorhoeve
Vom Netzwerk:
frisch eingetroffenen Büchern auszupacken. Lena erklärte mir, dass es sich um Lizenzausgaben ausländischer Verlage handelte, und obwohl Feierabend war, kamen immer noch einige Kunden durch die Hintertür. Sie wählten ausschließlich aus dem neu eingetroffenen Stapel aus, und für einige Bücher brauchte Lena keine Laufkarten mehr zu schreiben, da sie die Regale gar nicht erreichten. Die Kunden bedankten sich überschwänglich auf dem Weg nach draußen und ich wunderte mich sehr, dass die Buchhändlerinnen so freundlich zu ihnen waren, obwohl sie doch erst nach Ladenschluss gekommen waren.
    Am Marktplatz, in dessen Mitte der Hanfried, ein imposantes Denkmal für den Universitätsgründer, stand, aßen wir in einer Bäckerei eine »Eierschecke«, um uns für den Einkauf zu stärken. Ich passte genau auf und stellte fest, dass ein kleines Stück Kuchen genauso viel kostete wie ein ganzes Brot. Währenddessen gaben sich die Kunden die Klinke in die Hand und auch auf dem Marktplatz war ein großes Gelaufe. Offenbar hatten fast alle »Werktätigen« um 16 Uhr Feierabend und gingen gleichzeitig auf das Lebensmittelangebot los.
    Doch der Feierabend lockte auch noch andere Gestalten an. An einer ruhigen Ecke stand ein alter Lada. Der Motor war ausgeschaltet, zwei Männer saßen darin und rauchten und das Auto wäre mir überhaupt nicht weiter aufgefallen, hätte Lena nicht im Vorübergehen »Stasi!« geraunt. Mein Nacken versteifte sich. Ich erwartete, dass wir jeden Augenblick die Einkaufstaschen unter den Arm klemmen und losrennen würden! Doch nichts geschah, Lena blieb ganz ruhig, und als wir um die Ecke waren, erklärte sie mir, dass der Wagen oft dort stand – meist mit vier, manchmal auch mit zwei Personen darin. Sie beobachteten das Geschehen rund um den Marktplatz, hatten Einzelne im Visier oder stellten fest, ob unerwünschte »Zusammenrottungen« von Menschen stattfanden. Stasi-Autos standen auch gern vor Kirchen und Jugendclubs oder ihre Insassen mischten sich bei Veranstaltungen einfach unters Volk. An dem Abend in der Kleinkunstbühne seien mit Sicherheit auch Spitzel unter den Besuchern gewesen, sagte meine Tante leichthin. Sie nahm meine Hand und drückte sie entschuldigend, als sie merkte, wie sehr mich das erschreckte. »Am besten, du beachtest sie nicht«, sagte sie. »Dann kannst du dir bald einbilden, sie wären gar nicht da.«
    Der Fleischer lag zwei Straßen weiter, schon von weitem zu erkennen an der langen Schlange, die sich bis hinaus auf den Gehsteig gebildet hatte. Lena hätte gern Rouladen gehabt, machte sich aber keine Hoffnungen, da die, falls sie überhaupt angeboten wurden, bestimmt schon gleich morgens um neun über den Ladentisch gegangen waren. Sie hatte Recht, wir standen anderthalb Stunden um Gulasch an, und trotz Lenas ermunternden Worten beobachtete ich besorgt jeden Einzelnen, der mit uns in der Schlange wartete.
    Woran erkannte man einen Spitzel? Für meine Begriffe unterhielten sich die Leute recht laut und unerschrocken über das Warenangebot, die »Materialengpassliste« und darüber, dass es in Berlin die tollsten Sachen zu kaufen gab, während der Rest des Landes wohl eher nach dem Glücksprinzip versorgt wurde. Selbst die absolute Rarität, die Legende gewordene kostbarste Trophäe eines DDR-Einkaufsabenteuers war in der Hauptstadt gesehen worden: die Banane!
    Hatten diese Kunden denn gar keine Angst? War eine Warteschlange keine Zusammenrottung ? War es in diesem Land überhaupt erlaubt, sich mit Fremden zu unterhalten?
    Mein Stasi-Schreck verebbte nur langsam, selbst wenn man den anderen Leuten anmerkte, dass die Anwesenheit von Spitzeln offenbar zu den eher alltäglichen Dingen zählte.
    Nun stand uns nur noch der Einkauf im Konsum bevor, in dem Lena Stammkundin war. Inzwischen war es bereits dunkel geworden und meine Tante hatte es spürbar eilig. Routiniert reihten wir uns in eine weitere Warteschlange ein, aber es war nicht zu übersehen, dass der Elan der Wartenden – uns selbst eingeschlossen – um diese Stunde stark nachgelassen hatte. Müde starrten die Stehenden nach vorne zum Ladentisch oder auch nur auf den Rücken des Vordermannes.
    Es muss bereits kurz vor Ladenschluss gewesen sein, als wir uns bis zur Theke vorgearbeitet hatten, wo Lenas Freundin unsere Einkäufe in die Kasse tippte: Milch, Butter, Zwieback, gleich mehrere Dosen Ölsardinen – weil es die heute gerade gab und möglicherweise morgen schon nicht mehr –, ein Waschmittel. Der Kauf von

Weitere Kostenlose Bücher