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Lilly unter den Linden

Lilly unter den Linden

Titel: Lilly unter den Linden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne C. Voorhoeve
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gibt, nimmt man mit! Weiß doch keiner, was als Nächstes knapp ist.«
    Er schloss einen der Keller auf, stellte die Eimer neben einen kleinen Kohlehaufen und reichte mir die Schaufel, die obenauf steckte. Offenbar war er heute nur der Aufseher. Ich schaufelte gehorsam die beiden Eimer voll, wobei Kohlestaub meine Hände mit einer feinen schwarzen Schicht überzog, und grübelte immer noch über die arme Frau Giehse nach. »Wenn sie meine Mutter so gern hatte, sollte ich sie vielleicht einmal besuchen!«, nahm ich mir vor.
    »Äh …«, sagte Till verlegen, »ich glaube, da sprichst du vorher besser mit Mama.«
    »Warum denn das?«
    Er zuckte mit den Achseln und nahm mir die Eimer ab, um sie nach oben zu tragen. »Meinst du, sie kriegt Ärger, wenn jemand aus dem Westen sie besucht?«, bohrte ich.
    »Kann schon sein«, entgegnete Till so knapp, dass es schon fast unfreundlich klang.
    Ich hielt mich also zurück und lächelte Frau Giehse nur tröstend an, als wir ihr die Kohleeimer zurückbrachten. Nach all dem, was ich in den letzten Tagen erfahren hatte, wunderte mich allmählich gar nichts mehr. Ich konnte mir selbst nicht erklären, warum ich dennoch das unbestimmte Gefühl hatte, dass eine mögliche Überwachung von Frau Giehse nicht der wahre Grund für Tills Vorsicht war. War es möglich, dass er die alte Nachbarin nur nicht erzählen lassen wollte, warum der Gedanke an meine Mutter sie zum Weinen brachte?
    Den bleichen, hoffnungslos dreinblickenden Menschen, die in dem kalten fensterlosen Büroflur vergeblich nach einer Chance anstanden, musste längst klar sein, was sie draußen erwartete: Wer keine Arbeit fand, musste unter Brücken schlafen, der verfiel dem Alkohol und innerhalb kürzester Zeit den Drogen, die überall frei erhältlich waren, und von da an würden es nur noch einige wenige Schritte bis zum Abgrund sein. Die imperialistischen Machthaber in Bonn scherte das nicht. Denn so sah es nun einmal aus, das Unrechtsregime des Klassenfeindes, die als Demokratie getarnte Diktatur des Großkapitals: ein durch und durch menschenfeindliches System, in dem die Massen, durch Konsumterror ruhig gestellt, sich der Manipulation ihrer Gehirne nicht einmal mehr bewusst waren und diejenigen, die dem unbarmherzigen Leistungsdruck nicht standhielten, erbarmungslos der Verwahrlosung preisgegeben wurden. Die Tatsache, dass meine Verwandten bloß einen Schwarz-Weiß-Fernseher besaßen, machte diese Aussichten noch ein klein wenig trostloser.
    »Meinen die schon wieder uns?«, fragte ich verdattert, als ich mich einigermaßen in die Fremdsprache eingehört hatte, die mir aus dem Fernseher entgegenklang.
    Onkel Rolf lachte. »Das nennt man Propaganda«, sagte er und schaltete den Apparat aus. »Da hört man am besten gar nicht hin. Gute Nacht, Lilly!«
    Die kampflustigen Schilder in der Stadt fielen mir wieder ein und auf einmal reichte es mir. Noch nie hatte mich das Geschwätz interessiert, das sich Politik nannte, aber nun machte ich richtig Krach, als ich mir die Zähne putzte und mich für die Nacht auszog. Da bläuten die Erwachsenen uns von frühester Kindheit an ein, ehrlich und aufrichtig zu sein, weder Hausaufgaben noch Klassenarbeiten abzuschreiben, stets bei der Wahrheit zu bleiben und keine Ausflüchte zu erfinden, und dann das!
    Die Bilder, die ich gesehen hatte, waren angeblich aus unserer eigenen »Tagesschau«, aber mit einem Text des DDR-Fernsehens unterlegt, hatten sie auf wundersame Weise eine ganz neue Bedeutung bekommen. Wieso dürfen die das?, fragte ich mich empört. Was, wenn es jemand glaubt? Ob unsere Sender das vielleicht auch so machen …?
    Ich jedenfalls würde mich in Zukunft nur noch auf das verlassen, wovon ich mich mit meinen eigenen Augen überzeugen konnte!
    So nahm ich mir vor, besonders wachsam zu sein, als ich Lena am nächsten Tag in ihrer Buchhandlung abholte. Sie pflegte nach der Arbeit in der Stadt einzukaufen, da sie dort eine Verkäuferin kannte. Ich dachte bei mir, dass es eine sehr nette Verkäuferin sein musste, wenn Lena um eines Schwätzchens willen in Kauf nahm, ihre Einkaufstaschen den ganzen Weg nach Hause zu schleppen, obwohl wir gleich um die Ecke einen Konsum hatten.
    Lena freute sich sichtlich über meinen Besuch. Sie stellte mich ihren Kolleginnen vor, zeigte mir ihren Arbeitsplatz in der Abteilung »Internationales Buch« und nachdem die Buchhandlung geschlossen hatte, durfte ich helfen, Kisten des »Leipziger Kommissions- und Großbuchhandels« mit

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