Lilly unter den Linden
wir ein paar Meter gegangen waren, drehte ich mich zu Lena um, um zu fragen, was in aller Welt mit den Leuten los war. Hätten wir die matschige Apfelsine etwa nehmen sollen?
Da sah ich, dass Lena sich vor Lachen kaum halten konnte. »Was ist, warum lachst du so?«, rief ich und gab ihr einen kleinen Schubs.
Aber Lena schüttelte nur den Kopf und schubste zurück, und bis wir zu Hause ankamen, hatte ich zweimal fast die Apfelsinen verloren, weil wir uns den ganzen Weg nur kitzelten und balgten.
»Einkaufen macht bei euch mehr Spaß«, verkündete ich, als wir später am Tisch saßen und unsere Apfelsinenscheiben verschwenderisch in Puderzucker tauchten. Ich hatte Apfelsinen noch nie mit Zucker gegessen, es schmeckte einfach himmlisch. »Ist doch langweilig, wenn es immer alles gibt«, setzte ich hinzu.
»Wenn du so an die Sache herangehst, wirst du hier ein wahres Paradies vorfinden«, meinte Onkel Rolf. »Apfelsinen erst nach Weihnachten, Winterbekleidung dann in den Sommermonaten … ganz zu schweigen von den wunderbaren, von Vorfreude erfüllten Jahren des Wartens auf ein Telefon!«
»Der schiere Nervenkitzel, wenn du dich in einer Schlange anstellst und erst drinnen erfährst, was es wirklich gibt!«, schwärmte Lena.
Und mein Cousin beugte sich vertraulich vor. »Du kannst auch Äpfel für zwanzig Pfennig im Konsum kaufen und für sechzig Pfennig wieder zur Obstannahme bringen!«, teilte er mir mit.
Lena und Onkel Rolf hörten auf zu essen. »Was?«, fragten sie im Chor.
Till zog den Kopf ein und wir alle mussten so lachen, dass Puderzucker über den Tisch wehte. Ich aß die saftigen Apfelsinen und konnte mir nicht vorstellen, dass die anderen bereits in wenigen Tagen ohne mich hier sitzen würden. Doch seltsam, die Traurigkeit war wie weggeblasen. Alles schien machbar, jetzt, wo ich nicht mehr die Einzige war, die sich für meine Rückkehr in die DDR stark machte. Ja, ich war ganz sicher: Meine Familie und ich, wir miteinander würden alles schaffen, was wir uns vornahmen!
»Bist du eigentlich reich?«, fragte Till plötzlich. »Haben wir jetzt Westgeld?«
»Reich? Nee«, sagte ich. »Das meiste ist wegen Mamis Krankheit draufgegangen, und dann das teure Internat … aber ein bisschen Geld habe ich mitgebracht.«
Till brach in Jubel aus: »Dann können wir im Intershop einkaufen!« Es folgte eine aufgeregte Schilderung, wie er einmal ein D-Mark-Stück auf der Straße gefunden und schon von weitem erkannt habe, worum es sich handeln musste: Nur D-Mark-Stücke seien in der Lage, so zu funkeln! Zwei wundervolle Tage habe er von den Wünschen geträumt, die er sich mit diesem Reichtum erfüllen würde, ja, er habe seine Zukunftsaussichten bis ins Letzte ausgekostet, bevor er sich endlich dazu entschließen konnte, sich von der Mark zu trennen. Leider und überraschenderweise habe sie nur für einen Mars-Riegel und ein Päckchen Maoam gereicht. Wie viel Geld ich denn genau dabeihätte?
Seine Mutter richtete einen strafenden Blick auf ihn. »Lillys Geld geht uns überhaupt nichts an!«, erklärte Lena streng.
»Aber wenn sie hier wohnt …«, sagte Till und zog die letzte Silbe schmollend in die Länge.
»Schluss jetzt, ich will nichts davon hören!«
Einige Sekunden lang hing der Haussegen schief. Tills Gesicht hätte man fotografieren und unter dem Titel »Enttäuschte Hoffnung« ausstellen können.
»Was ist denn ein Intershop?«, fragte ich dann vorsichtig, und Onkel Rolf räusperte sich und erklärte mir, dass in der DDR eine besondere Ladenkette existierte, in der nur einkaufen konnte, wer D-Mark besaß – Geschäfte, in denen es all das zu kaufen gab, was man in gewöhnlichen Läden vergebens suchte!
»Ihr könnt in eurem eigenen Land mit eurem eigenen Geld nicht überall einkaufen?«, fragte ich ungläubig. »Wieso lasst ihr euch das gefallen?«
Onkel Rolf zuckte ein wenig verlegen mit den Schultern. »Man gewöhnt sich dran«, gestand er. »Den meisten anderen geht’s ja auch nicht besser.«
Und plötzlich erinnerte ich mich, dass Mami ihren Päckchen an Lena immer auch Geld beigelegt hatte – mal versteckt hinter der Folie des Bohnenkaffees, mal im Deckel eines Kosmetikdöschens. Aber die Mitarbeiter des Zolls, die auf jedem Postamt saßen und die Sendungen von West nach Ost kontrollierten, waren mittlerweile so gewieft, dass in den letzten anderthalb Jahren kein Pfennig mehr bei Lena angekommen war. Meine Verwandten waren Opfer eines Postraubs geworden!
»Zuletzt war sogar der
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