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Lilly unter den Linden

Lilly unter den Linden

Titel: Lilly unter den Linden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne C. Voorhoeve
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Eiern hingegen hatte, wie ich erfuhr, Zeit bis zum nächsten Einkauf. Sie waren anscheinend derzeit nicht knapp, was Lena an dem Pappschild erkannte: »Nimm ein Ei mehr!«
    Ich hoffte inständig, dass das nun zu erwartende Schwätzchen uns nicht allzu lange aufhalten würde. Ich war müde, hatte Hunger und mir taten die Beine weh. Doch die beiden grüßten sich nur freundlich, wechselten ein »Wie geht’s?« und Lena war so beschäftigt mit dem Einpacken ihrer Waren in die beiden großen Taschen … dass sie gar nicht zu bemerken schien, wie ihre vermeintliche Freundin plötzlich eine kleine rote Flasche unter dem Ladentisch hervorholte, sie ohne ein Wort in einer der Taschen verschwinden ließ … und dann auch noch einen Preis dafür eintippte!
    Ich blinzelte. Was hatte das zu bedeuten? Lena sollte für etwas bezahlen, das sie gar nicht hatte haben wollen, das ihr einfach in die Tasche geschmuggelt worden war? Unglaublich! Blitzschnell griff ich in die Tiefen der Tasche, um die Flasche wieder hervorzuziehen und die Betrügerin mit den Worten »Lena, die hat dir gerade …!« ihrer Tat zu überführen. Allerdings stieß ich dabei nicht auf die Flasche, sondern mit Lenas Hand zusammen, die die meine mit großer Entschiedenheit wegschubste, während gleichzeitig ein Stiefel einen Treffer auf meinem rechten Fuß landete. Beleidigt klappte ich den Mund wieder zu. Bitte, dann sollte sie sich eben betrügen lassen!
    Immer noch schmollend folgte ich ihr nach draußen, wo sie einen erwartungsvollen Blick in ihre Tasche warf und mit dem glücklichen Seufzer: »Ketschup!« entzückt die kleine Flasche beschaute. »Lilly, das wird ein Fest! Heute mache ich euch Pommes frites! Entschuldige, dass ich dich getreten habe, aber die Steigerung von Mangelware ist Bückware, und die bekommst du nur unterm Ladentisch und mit besonderen Beziehungen.«
    Der Weg nach Hause war weit und ich hatte viel Zeit nachzudenken. Plötzlich dämmerte mir auch, was ich in der Buchhandlung erlebt hatte: Es gab bevorzugte Kunden, die früher als andere an die Beute herangelassen wurden oder einfach die eine oder andere Rarität unter der Hand zugesteckt bekamen! Das Ganze funktionierte offenbar nach dem Prinzip »Eine Hand wäscht die andere«: Lena legte Bücher für die Kaufhallenverkäuferin zurück und erhielt dafür eine Flasche Ketschup.
    Ob es in der umgekehrten Richtung wohl auch so funktionierte? Wenn man eine Ware loswerden wollte, setzte man das Gerücht in die Welt, sie würde demnächst knapp …? Ich war verblüfft, welchen Einfallsreichtum man hier entwickeln musste, um die tägliche Versorgung zu gewährleisten. Ich konnte nur hoffen, dass meine eigene Fantasie würde mithalten können, wenn es erst einmal so weit war!
    »Bodenfrost gemeldet«, hörte ich Onkel Rolf sagen, während er darauf wartete, Katrin ihr Abendessen zu bringen. »Findest du nicht, dass es reicht?«
    Ich ließ sachte die Badezimmertür zuklappen, blieb im Flur stehen und horchte schamlos. »Du tust gerade so, als hätte ich sie rausgeschmissen«, wehrte sich Lena. Tack, tack, tack, tack, machte aufgebracht ihr Kartoffelmesser.
    »In moralischem Sinne hast du das ja auch«, meinte Onkel Rolf. »Hör mal, ich respektiere eure Sturheit, wirklich. Ihr habt einander bewiesen, dass es euch ernst ist, jeder weiß, wo der andere steht … dagegen ist nichts einzuwenden. Aber so kann es doch nicht weitergehen. Soll sie sich da unten eine Lungenentzündung holen?«
    »Hass macht einsam«, sagte Lena hart. »Das kann sie lernen.« Sie pfefferte einen Schwung Kartoffelstreifen ins kalte Wasser. »Ich habe keine Lust mehr, ihr ständig in allem nachzugeben! Da ist die Haustür, unverschlossen! Nein, Rolf. Diesmal gehe ich sie nicht holen.«
    Ich verkrümelte mich bedrückt. Für diesen Familienstreit war ich der Auslöser, das wusste ich, aber das Wort Hass erschreckte mich. Katrin durfte mir die Tür vor der Nase zuknallen, mich aus ihrem Zimmer werfen und am Frühstückstisch schikanieren, aber hassen, hassen sollte sie mich nicht!

20
    Ich war so überrumpelt, dass ich einfach beiseite trat und ihn einließ: den unbekannten Mann, der am nächsten Tag an der Wohnungstür klingelte und nach dem Öffnen mit den Worten: »Aha! Du bist bestimmt Lilly!« schnurstracks an mir vorbeiging. »Ist Lena da?«, fragte er und sah sich im Flur um. Dabei hatte ich den Eindruck, dass es ihm gelang, innerhalb weniger Augenblicke alles zu registrieren, was es bei uns zu sehen gab. Er sah

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