Lilly unter den Linden
hatte …«
»Teresa«, flüsterte ich.
Lena nickte, und erst da fiel es mir wieder ein … die Begegnung der beiden an Mamis Grab und wie sie einander angeschaut hatten, das erste von vielen Rätseln. Ich hatte mich noch gewundert, ich hatte doch geglaubt, dass sie einander nie zuvor begegnet waren …
»Teresa hatte Rita wohl auf der Toilette der Gastwirtschaft geschminkt und ihr die Haare zurechtgemacht«, fuhr Lena fort. »Jedenfalls sahen sie sich im ersten Moment und in diesem Licht so verrückt ähnlich, dass ich gleich kapierte, was sie vorhatten und dass mein Auftauchen alles durcheinander brachte. Jochen ist schier ausgeflippt, als er mich sah. Er zerrte mich ins Auto, Rita und Teresa immer hinterher, und wir hatten einen Riesenstreit zu viert in unserem Wartburg, wo ich schon allein kaum noch reinpasste.«
Sie deutete mit ihren Händen einen riesigen Schwangerschaftsbauch an und ich erkannte verblüfft, dass damit Katrin ins Spiel kam. Aber wie alles zusammenhing, das hätte ich nicht im Traum ahnen können.
»Es war unbeschreiblich, völlig hysterisch«, erinnerte sich Lena. »Rita heulte und wollte die Sache abbrechen, aber Jochen wollte natürlich nichts davon wissen. Schließlich habe ich sie einfach gefragt: Rita, willst du wirklich mit ihm gehen? Und sie hat gesagt, ja. Damit war die Sache entschieden. Das Verrückte ist, dass mir nicht einen Augenblick der Gedanke gekommen ist, ich müsste sie anzeigen. Dabei war ich doch durch die ganze Schule gegangen …«
Sie brach ab und sah wieder aus dem Fenster, stand eine ganze Weile einfach nur da und starrte hinaus. Man hätte eine Stecknadel fallen hören können. Onkel Rolf hörte sogar auf, in seinem Tee zu rühren, wie er es die ganze Zeit getan hatte, wohl ohne sich dessen bewusst zu sein.
Schließlich holte Lena tief Luft und erzählte weiter. »Ich habe es nicht nur nicht gemeldet, ich habe ihnen sogar geholfen. Sie hatten meinetwegen so viel Zeit verloren, dass Teresa es nicht mehr vor Mitternacht über die Grenze geschafft hätte. Ich habe sie mit dem Auto hingefahren. Denn das war ja der Plan … zuerst Rita und Jochen und eine halbe Stunde später Teresa, der ja angeblich der Pass geklaut worden war. Teil eins hat auch gut geklappt, Rita und Jochen blieben völlig unbehelligt. Aber Teresa wurde sofort verhaftet.«
»Was?«, entfuhr es mir.
»Sie haben ihr nicht geglaubt«, sagte Lena und hob die Schultern. »Und den Rest hatten sie auch schnell aus ihr raus. Wie sie zur Grenze gekommen war. Wer das Auto gefahren hat. Als ich ein paar Stunden später zu Hause ankam, waren sie schon da.«
Ich sah, wie Onkel Rolf leicht nickte. Ich nehme an, er konnte das alles noch genau vor sich sehen … die lange Winternacht, die Polizisten, die in der Wohnung warteten, Lena, die nach mehrstündiger Fahrt gegen Morgen erschöpft und traurig nach Hause kam …
Selbst da wollte ich es noch nicht glauben. »Die drei Jahre«, stammelte ich. »Der Brief … nein … nein, das ist doch nicht wahr!«
Ich sprang auf, warf meine Decke zu Boden und wollte aus dem Zimmer laufen, einfach hinaus, weg von allem, weg von der Wahrheit und von dem, was Menschen einander antun können. Lena war schneller, stand mir im Weg und wollte mich festhalten, aber ich gab ihr einen so festen Stoß, dass sie erschrocken einige Schritte zurücktrat. Ich wollte an ihr vorbeilaufen … aber da war noch etwas.
Ich blieb stehen und sah sie an. »Und Katrin? Und dein Baby?«
Lena machte den Mund auf, um etwas zu sagen, aber es kam kein Ton heraus. Stattdessen sagte Onkel Rolf: »Bernd Hillmer hat uns geholfen. Er hat herausgefunden, in welches Heim sie sie gebracht haben, und als Lena wieder freikam, haben wir mit seiner Hilfe Gott sei Dank auch Katrin wiederbekommen.«
Lena stand immer noch dort, wohin ich sie geschubst hatte, und sah mich beschwörend an. »Es war nicht Ritas Schuld, Lilly. Es war nicht einen Augenblick ihre Schuld. Ich habe ihr das immer wieder zu schreiben versucht, aber sie hat es nie verstanden. Ich dachte immer, eines Tages sehen wir uns wieder, und vielleicht glaubt sie mir es dann …«, setzte sie verloren hinzu.
Wie es sich wohl anfühlt, wenn die Welt zusammenbricht? Scherbengleich stürzen Bilder und Gedanken durcheinander und bleiben als Trümmerfeld liegen, und es dauert endlos lange, bis man sie wieder einigermaßen geordnet und zusammengesetzt hat. Ich sah meine schöne, fröhliche Tante vor mir, die ihr Baby im Gefängnis hatte
Weitere Kostenlose Bücher