Lilly unter den Linden
von Gitterfenstern, zuschlagenden Türen und gestohlenen Kindern. Noch heute habe ich Schwierigkeiten, mir im Fernsehen Filme anzusehen, die in einem Gefängnis spielen.
»Hat Lena dir je etwas erzählt von …« Ich wollte es unbedingt wissen, aber an dem Abend hatte ich die Worte kaum über die Lippen gebracht.
Ich war erleichtert, als Katrin antwortete: »Nein, nie. Sie spricht nicht darüber. Sie hat nur gesagt, dass alles im Leben einen Sinn hat und dass der Sinn dessen, was uns passiert ist, vielleicht darin liegt, dass sie und Papa so fest zusammengehalten haben. Die haben ihm in den Ohren gelegen, er solle sich scheiden lassen, aber er wollte nichts davon wissen. Mama haben sie sogar Scheidungspapiere vorgelegt, mit einer gefälschten Unterschrift von Papa. Aber sie hat gleich gewusst, dass das nicht sein kann. Komisch, nicht wahr? Dass sie so sicher sein konnte …«
Mehr erzählte sie nicht, und eigentlich wollte ich das alles auch gar nicht genauer wissen. Aber ich konnte nichts dagegen tun, dass ich ständig daran denken musste – in Jena und auch dann noch, als ich längst wieder in Hamburg war.
In den wenigen Tagen, die noch blieben bis zu meiner Abreise, bemühten sich alle sehr um mich. Onkel Rolf spielte jeden Abend mit mir Rummycub, er wurde regelrecht süchtig danach und freute sich, dass ich ihm das Spiel daließ. Katrin nahm mich zu ihren beiden besten Freundinnen mit, die mich enthusiastisch befragten.
Sie hatten noch nie jemanden aus dem anderen Teil der Welt kennen gelernt, aber sowohl die antiwestliche Propaganda ihrer Regierung als auch die Sehnsüchte im Kopf, die der Empfang des Westfernsehens in ihnen weckte. Ich hatte den Eindruck, dass sie sich eine nebulöse Mischung aus Obdachlosenelend und Schlaraffenland vorstellten, in dem man nur den Mund aufzusperren und zu warten brauchte, bis einem die »Broiler«, die gebratenen Hähnchen, hineinflogen.
»Wenn meine Mutter etwas Schönes erlebt, sagt sie: Das ist ja wie im Westen«, erzählte Petra.
Ich setzte zu einer etwas unzusammenhängenden Rede an, dass es bei uns in der BRD weder so paradiesisch sei wie erträumt noch so schlimm wie befürchtet. Auch in der DDR gebe es Dinge, die ich schön fände, und Dinge, die mir nicht gefielen. Aber vor allem, und das sei das Entscheidende, lebten hier wie dort in der Mehrzahl friedliche Menschen, und selbst wenn die hiesige Bevölkerung durch Straßenschilder zum Kampf gegen uns aufgerufen wurde, könne ich ihnen versichern: Auch wir Impirrealisten wollten den Frieden.
Die drei gaben sich große Mühe, nicht zu lachen. »Kein Mensch guckt nach den Spruchbändern, Lilly«, beruhigten sie mich. »Mach dir keine Sorgen.«
Mit gemischten Gefühlen hörte ich von Fahnenappellen, von der paramilitärischen Ausbildung, die zum Schulunterricht dazugehörte, sowie vom Unterricht in »Staatsbürgerkunde«, in dem man Zungenbrecher wiederkäute wie: »Unter der Führung der Arbeiterklasse und ihrer marxistisch-leninistischen Partei erfüllten die Werktätigen des sozialistischen Zeiss-Werkes die Beschlüsse des x-ten Parteitags der SED.«
Aber Katrin und ihre Freundinnen schienen das alles gar nicht so ernst zu nehmen. »Wenn du mitmachst, lassen sie dich in Ruhe«, beruhigte mich Mona. »Wie du in Wirklichkeit dazu stehst, braucht ja niemand zu wissen.«
»Unser Klassenlehrer spricht ganz offen, wenn wir unter uns sind«, erzählte Katrin. »Aber in der Öffentlichkeit zieht er eine Schau ab, da muss jeder Ausflug unter dem Etikett der FDJ laufen. Völlig plemplem, aber was soll’s? Ziehen wir halt unser Blauhemd an und unterwegs wieder aus. Peinlich wird es nur, wenn sie abfragen, was in der Aktuellen Kamera berichtet wurde. Dann stellt sich nämlich schnell heraus, wer lieber Westfernsehen geguckt hat …«
Katrin, Mona und Petra sahen Filme, lasen Bücher, hörten Musik aus der BRD, aber als ich meinte: »Ist doch eigentlich blöd, dass wir geteilt sind«, zuckten sie nur mit den Schultern. Es gab vieles in ihrem Land, das sie genug schätzten, um nicht woanders leben zu wollen – etwa die günstigen Eintrittspreise, die es jedem ermöglichten, Theater und Konzerte zu besuchen, oder auch die großzügige Förderung begabter Kinder aus Familien, die sich dies aus eigenen Mitteln gar nicht hätten leisten können.
»Vorausgesetzt, du tust, was sie von dir erwarten. Wenn du zur Kirche gehörst, den Wehrdienst verweigerst, durch Kritik auffällst … dann ist nichts zu machen, da
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