Lilly unter den Linden
teilte ich ihr mit.
Katrin ließ die Taschenlampe sinken. »Na und? Lass mich in Ruhe, Lilly. Ich weiß, dass du nichts dafür kannst. Aber du hast hier einfach nichts zu suchen, versteh das doch endlich.«
»Und warum nicht?«
»Frag Mama«, sagte Katrin verächtlich. »Mit der kannst du es doch so gut.«
Sie knipste die Taschenlampe aus und rollte sich wieder unter ihren Decken zusammen. »Was hast du denn gegen mich?«, fragte ich unglücklich.
»Hau ab«, knurrte es aus den Tiefen des Deckenhügels.
»Erst wenn ich weiß, warum.«
»Dann bleib eben sitzen. Von mir erfährst du nichts. Aber geh runter von meiner Decke!«
Sie riss mir einen Deckenzipfel unter dem Hintern weg. Ich blieb eine Weile abwartend sitzen, aber Katrin machte keine Anstalten, wieder aufzutauchen. Schließlich fing ich einfach an. »Meine Mutter hat nie von dir gesprochen, nur ein einziges Mal«, erzählte ich ihr. »Einmal hat Lena ein Foto von euch allen geschickt. Du warst auch darauf, aber ich wusste überhaupt nicht, wer du warst. Bis dahin hatte ich immer gedacht, Lena hätte nur den Till …«
Katrin rührte sich nicht.
»An dem Tag in Hamburg, da …«, begann ich erneut und stockte, weil ich wie im Zeitraffer noch einmal die Bilder vor mir sah, von denen ich wusste, dass ich sie nie würde in Worte fassen können: Lenas Gesicht, vom Licht der Kirchenfenster umspielt, den Drachen im Wind über dem Strand, die kleinen Wellen der Alster, als mein Stein hineinfiel. »Das war so schön«, sagte ich hilflos. »Und meine Mutter war gerade erst ein paar Tage tot.«
»Geh ins Bett, Lilly. Ich will das nicht hören«, drang es dumpf unter den Decken hervor.
»Ich hab doch sonst niemanden!«, erwiderte ich und begann zu schluchzen.
Das war das Letzte, was ich in Gegenwart von Katrin geplant hatte, aber ich konnte nichts dagegen tun, und irgendwie war es mir plötzlich auch egal. Katrin würde mich weiter hassen, ich würde nach Hamburg zurückkehren, und aus meiner Übersiedlung in die DDR würde sowieso nichts werden. Denn wenn nicht alle von uns dafür waren, konnte ich es ebenso gut bleiben lassen.
Plötzlich spürte ich eine Hand an meinem Arm. »Nun hör schon auf zu heulen«, fing Katrin an, aber dabei schlug ihre Stimme um, und mit einem Mal brach sie selbst in Tränen aus. »Sieht das hier vielleicht so aus, als ob ich jemanden hätte?«, schluchzte sie. »Ich sitze seit vier Tagen in dieser Scheißhütte, und es ist scheißkalt hier!«
Ehe wir wussten, wie uns geschah, hielten wir uns in den Armen und schnieften und heulten. Später haben wir oft darüber gelacht und noch Jahre danach den anderen vorgespielt, wie wir uns so einsam und verlassen fühlten, dass wir unversehens das heulende Elend bekamen. Aber damals im Gartenhaus war es überhaupt nicht komisch, es brach regelrecht über uns herein, und trotz aller späteren Scherze weiß ich, dass wir die Erinnerung daran insgeheim wie einen kostbaren Schatz hüten.
Ich weiß nicht, wie lange wir dort eng umschlungen weinten, bis Lena uns fand. Vielleicht hatte sie die Eisblumen an den Fenstern gesehen und entschieden, dass es Zeit war, Katrin nach Hause zu holen. Sie ging vor uns in die Hocke, sagte kein einziges Wort, aber legte jeder von uns eine Hand an die Wange und ließ sie dort, als wollte sie uns zeigen, dass ihre Liebe für uns beide reichen würde.
Und so kam es, dass es schließlich doch Lena war, die die Geschichte erzählte. Wir saßen alle zusammen im Wohnzimmer, obwohl es mitten in der Nacht war – Till, Katrin und ich unter Wolldecken auf dem Sofa, Onkel Rolf im Sessel mit dicken Socken an den Füßen und einer Tasse Tee. Lena stand am Fenster und schaute hinaus, sie trug ihre warme Strickjacke über dem Schlafanzug und hielt sich mit beiden Armen fest umschlungen, als ob ihr trotzdem noch kalt wäre.
»Ich war einfach so erschrocken«, sagte sie nach einer Weile. »Ich kam nach Hause und da lag dieser Zettel: Ich bin in Hamburg …« Sie drehte sich zu uns um. »Ich habe gar nicht lange überlegt, ich habe mich ins Auto gesetzt und bin losgefahren. Rita war meine kleine Schwester, ich war für sie verantwortlich … als unsere Eltern starben, war sie kaum älter als du, Katrin. Und ich wusste ja auch genau, wo sie sich immer trafen.
Den ganzen Weg nach Berlin habe ich nur gedacht: Hoffentlich komme ich nicht zu spät. Aber sie waren tatsächlich noch da. Rita und Jochen und ein junges Mädchen, das Jochen mitgebracht
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