Lilly unter den Linden
musste ich nacharbeiten. Wenn mich nicht alles täuscht, habe ich Lena sogar einmal vorgeworfen, auf meine Kosten ihre verlorenen Lehrerinnenjahre aufarbeiten zu wollen …
»Vielleicht hat Papa aber auch an dich gedacht«, mutmaßte Katrin im Bett neben mir. »Ich meine, sieh dich doch mal um. Das Schlangestehen und dann doch nicht kriegen, was man braucht. Der Putz, der von den Wänden fällt, die ständige Angst, dass das Auto schlapp macht, kein Telefon zu haben, die Schäbigkeit überall … ich hab das manchmal so satt!«
»Darauf kommt’s doch nicht an«, murmelte ich.
»Das hat deine Mutter aber wohl anders gesehen«, erwiderte Katrin ein wenig spitz. »Ist dir überhaupt klar, was du aufgibst? Wie eng es in diesem Land ist? In den Ferien an der Ostsee haben wir der Schwedenfähre nachgeschaut. Sie fährt jeden Abend, sie ist ganz nah … weißt du, was das für ein Gefühl ist? Ich wette, du hast keine Ahnung.«
Ich fühlte mich plötzlich müde. Diese Diskussion hatte ich schon zu oft geführt. »Und ich wette«, sagte ich, »Alleinsein ist schlimmer.«
Einige Sekunden verstrichen. »Ich weiß«, sagte Katrin dann leise. »Früher dachte ich, sie hätten mich im Heim vertauscht. Ich dachte, ich kann gar nicht ihr Kind sein, ich sehe ihr überhaupt nicht ähnlich! Frag nicht, wie oft ich mich im Spiegel angeguckt habe. Ganz sicher werde ich wohl nie sein, was meinst du?«
»Lena ist aber ganz sicher«, erwiderte ich. »Reicht dir das denn nicht?«
Katrin seufzte. »Manchmal hasse ich sie dafür«, murmelte sie. »Und dann wieder … kann ich gut verstehen, dass du gekommen bist. Ihretwegen.«
Ihre Traurigkeit – fremd, beängstigend – hing plötzlich wie Nebelschwaden im Raum. Sie war wie eine Krankheit, gegen die es kein Mittel gibt, und hilflos spürte ich, dass Katrin es wusste und Lena auch. In diesem Augenblick wünschte ich, Meggi wäre da. Sie hätte meiner Cousine etwas Tröstliches sagen können wie: »Lass doch einfach zu, dass sie dich lieben.« Aus ihrem Munde hätte es völlig natürlich geklungen. Bei mir wurde daraus ein: »Ich finde schon, dass du ihr ein bisschen ähnlich siehst.«
»Wirklich?«, fragte Katrin dankbar.
»Ja, unbedingt.«
Katrin streckte sich. Der schwierige Moment war vorüber. »Eigentlich schade, dass wir niemanden mehr im Westen haben, wenn du zu uns ziehst«, sagte sie schläfrig. »Es war schön, Päckchen von drüben zu bekommen. Die haben immer so herrlich gerochen.«
»Klar haben wir jemanden«, erwiderte ich froh. »Meine Freundin Meggi und meinen Freund Pascal.«
»Wollen wir hoffen, dass sie den nicht auch schon verhaftet haben«, brummte Katrin.
Das hatten »sie« zum Glück nicht, aber Pascal hält mir heute noch vor, dass er meinetwegen mit einem Fuß im Gefängnis gestanden habe. Nach seiner Rückkehr aus Acapulco mussten wir einige unangenehme Stunden auf dem Jugendamt über uns ergehen lassen, und zwar nicht nur mit der immer noch aufgeregten Frau Gubler und ihrem Chef, sondern sogar mit jemandem vom Ministerium. Die Aussprache war so ernst, dass Pascal vorsichtshalber einen Anwalt mitbrachte, weil er fürchtete, wegen Kindesentzugs belangt zu werden. Der Anwalt behielt zum Glück die Zügel in der Hand und ritt darauf herum, dass zu Beginn des Jahres 1989 – und mit Gorbi, Glasnost und Perestroika auf unserer Seite – in den Beziehungen zwischen BRD und DDR alle Zeichen auf Verständigung standen. Vorbehalte, ein Kind bei seiner Verwandtschaft in der DDR aufwachsen zu lassen, würden mit Sicherheit für Irritationen sorgen. Oder wolle man den Kollegen drüben allen Ernstes vermitteln, das Recht auf Familienzusammenführung hänge vom Wohnsitz ab?
Doch unter sechs Augen machte er uns keine Hoffnung auf einen schnellen Erfolg. Ich blieb im Internat, ich verbrachte die Wochenenden bei Meggi oder mit Pascal, ich schrieb lange sehnsüchtige Briefe »nach Hause« und lebte von meinen Erinnerungen an die Weihnachtswoche in Jena. Eine Zeit lang wachte ich sogar jeden Morgen pünktlich um fünf Uhr auf und begann den Tag in demselben Augenblick, in dem Lena durch ihre Zimmer huschte und das Feuer in den kleinen Öfen entzündete.
Ich versuchte, nichts zu vergessen – den Geruch der Wohnung, die Stimmen meiner Verwandten, den Klang der Treppenhausstufen, den Blick aus jedem einzelnen Fenster. Mein Zuhause eben.
Aber es gab auch andere Dinge – Fragen, die ich nicht zu stellen gewagt hatte, und den einen oder anderen bösen Traum
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