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Lilly unter den Linden

Lilly unter den Linden

Titel: Lilly unter den Linden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne C. Voorhoeve
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zur Welt bringen und hergeben müssen, meine Cousine, die drei lange, einsame Jahre im Kinderheim verbracht hatte, meinen stillen, sanften Onkel, der verzweifelt versucht hatte, sie zu finden und nach Hause zu holen, und ich konnte nicht einmal weinen. Erst viel später kamen die Gedanken an Mami und an all das, was sie fünfzehn Jahre lang mit sich herumgetragen hatte, eine Last, die so schwer gewesen war, dass sie nie mit mir darüber sprechen konnte. Wie sehr musste sie sich danach gesehnt und gleichzeitig Angst davor gehabt haben, ihre Schwester noch einmal wiederzusehen.
    »Wenn du das alles gewusst hättest«, fragte plötzlich Katrin, »dann wärst du nicht gekommen, oder?«
    »Natürlich nicht.« Nun kamen mir doch die Tränen.
    »Aber das war das Schönste für mich«, sagte Lena lächelnd. »Deine Sicherheit, dass du zu uns gehörst … dein Mut und dein Vertrauen. Ich habe gedacht, jetzt kann endlich alles gut werden.«
    Ich schüttelte den Kopf. »Nach all dem«, flüsterte ich, »kann mich doch keiner von euch mehr haben wollen.«
    »Doch«, antwortete Onkel Rolf sofort.
    »Klar!«, meinte auch Till und nickte mir freundlich zu. Dabei hatte auch er alles gewusst, von Anfang an …
    Katrin hob den Kopf und sah mich lange an. »Ich auch«, sagte sie schließlich.
    Lena holte tief Luft und gab einen kleinen Laut von sich, irgendwo zwischen Lachen und Weinen. »Willkommen zu Hause, Lilly«, sagte sie und sah mich liebevoll an.
    Sie sprach es nicht aus, aber ich konnte ihr ansehen, was sie dachte: Jetzt kann keine Mauer der Welt uns mehr etwas anhaben.

21
    Meine vierte Nacht. Durch die Vorhänge hindurch hüllte der Mond, der seit meiner Ankunft zu einem vollen runden Orange angewachsen war, das Zimmer in mattes Licht. In wenigen Stunden würde die Sonne aufgehen. Ich sah Katrins Schrank, die Schreibtischkante, die Schatten der kleinen Topfpflanzen auf dem Fensterbrett. Derselbe Anblick wie jede Nacht vor dem Einschlafen und trotzdem ganz anders.
    »Wenn du willst, können wir die Betten zusammenrücken, Lilly. Ich meine … wenn wir uns noch unterhalten wollen«, sagte Katrin in die Stille hinein.
    Ich antwortete nicht, hörte aber, wie meine Cousine aus ihrem Bett stieg und es die paar Meter durch den Raum zu meinem Sofa schob. Sie kletterte wieder unter ihre Decke. Danach schwiegen wir eine ganze Weile, doch ich konnte an ihren Atemzügen erkennen, dass sie auch noch nicht schlief. »Was ist das Erste, woran du dich erinnerst?«, fragte ich schließlich.
    »Wie Mama mit Till aus dem Krankenhaus kam. Wie wir alle vier im Bett gekuschelt haben, abends vor dem Schlafengehen … da war ich fast fünf. Vom Heim weiß ich nur noch, dass ich immer schreckliche Angst hatte, ins Bett zu machen. Natürlich ist es dann doch passiert. Es hat erst aufgehört, als Till kam …«
    »Ich hätte auch fast einen kleinen Bruder gehabt. Mami hatte eine Fehlgeburt, das war ziemlich schlimm.«
    Es war unglaublich, wie leicht es plötzlich war, miteinander zu reden. Es half, dass es dunkel war, dass man, nebeneinander liegend, die Stimme kaum zu heben brauchte. »Als Mama aus Hamburg zurückkam, war sie ganz durcheinander«, erzählte Katrin. »Sie hat immer wieder davon angefangen, dass es doch eigentlich normal wäre, wenn du zu uns kämst. Der arme Papa ist richtig nervös geworden. Er hat fleißig dagegen gehalten … du würdest einen Kulturschock bekommen, du würdest spätestens nach drei Wochen wieder nach Hause wollen, du hättest in der Schule nicht mal Russisch gehabt und und und.«
    »Und was hat ihn wirklich gestört?«
    »Das Aufsehen, nehme ich an. Es werden einige Leute auf uns aufmerksam werden, wenn jemand aus dem Westen bei uns einzieht.«
    »Armer Onkel Rolf«, sagte ich und fügte hinzu: »Ich kann wirklich kein Russisch.«
    »Dann fängst du am besten gleich damit an. Wenn du erst mal hier bist, wird Mama dir helfen. Aber viel Spaß, das kann ich dir jetzt schon sagen. Sie ist brutal streng.«
    »Lena? Quatsch!«, meinte ich, obwohl Katrin natürlich Recht behalten sollte. Lenas Russisch-Nachhilfestunden und meine dabei vergossenen Verzweiflungstränen habe ich heute noch in lebhafter Erinnerung. Wir saßen vor unserem Zelt am Balaton, wo wir zusammen die Sommerferien verbrachten, und während Onkel Rolf, Katrin und Till nach Herzenslust schwammen, fischten und faulenzten, paukten Lena und ich jeden Tag vier Stunden Vokabeln, Grammatik und Aussprache. Jede Minute, die ich unaufmerksam war,

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