Lilly unter den Linden
kannst du so begabt sein, wie du willst«, klärte mich Mona auf.
Den größten Spaß schienen die drei aber an den Witzen und Anspielungen zu haben, die man sich hinter vorgehaltener Hand über das Leben in der Mangelwirtschaft und die angestrengten Beschönigungsversuche der Partei erzählte. »Das würde mir viel zu sehr fehlen«, behauptete Petra, und ich wurde das Gefühl nicht los, dass diese gemeinsamen Erlebnisse für eine Art der Verständigung untereinander sorgten, wie ich sie nicht kannte.
Nur dass sie den Westen nicht einmal sehen durften, empörte sie; das war das Einzige, was sie wirklich nicht verstanden. »Ich will doch gar nicht drüben bleiben«, sagte Petra immer wieder. »Ich will doch nur mal gucken!«
Ich erfuhr, dass Mona Comics zeichnete wie eine meiner Freundinnen am Eppendorfer Gymnasium, dass Petra wie Meggi gern vor dem Radio saß und die Hitparade aufnahm. Sie hatte sogar an den Kummerkasten einer Jugendzeitschrift geschrieben, als sie einmal unglücklich verliebt aus dem Sommerlager kam, und bekam einen Lachanfall, als ich Meggis Brief an Frau Irene rezitierte. Obwohl ich »demokratisch« und Katrin und ihre Freundinnen »sozialistisch« erzogen worden waren und unsere jeweiligen Länder ein großes Tamtam um diesen Unterschied machten, unterschieden wir uns bei weitem nicht so sehr voneinander, wie man uns weismachen wollte. Wir nahmen uns vor, uns öfter zu treffen, sobald ich übergesiedelt war, und ich spürte, wie sehr ich mich schon jetzt darauf freute.
Till kam natürlich zu seinem Besuch im Intershop. Es war ein wenig umständlicher, als ich es mir vorgestellt hatte, da wir zunächst lange in der Bank anstehen mussten, um mein Geld in »Forumschecks« umzutauschen. Dabei wurden wir sogar noch vorgelassen, da den anderen Wartenden Tills Gezappel so auf die Nerven ging. Wie sollte es erst im Intershop werden …?
Ich erlebte eine Überraschung: Es verschlug ihm die Sprache. Er zog an den Regalen vorbei, die mit Lebensmitteln, Kosmetika, Haushalts- und Spielwaren aus westdeutscher Produktion bestückt waren, und geriet angesichts der fast hundert Mark, die ihm zur Verfügung standen, derart unter Druck, dass er schließlich nur ein Matchboxauto und eine Rolle Smarties erstand. Schweigend radelten wir nach Hause, wo wir – ebenfalls wortlos – übereinkamen, dass ich die restlichen Schecks in der Küchenschublade zurücklassen würde, wo Lena sie nach meiner Abreise finden und für den Haushalt verwenden konnte.
Till ging mit mir auch ins Planetarium, druckste anschließend eine Weile herum und wollte dann von mir wissen, ob ich glaubte, dass meine Mutter im Himmel sei, vielleicht sogar als Stern unter Sternen.
»Nein«, sagte ich. »So weit oben ist sie nicht. Sie ist die ganze Zeit hier, manchmal höre ich sie sogar.«
Mein Cousin ließ seinen Blick in die Lüfte schweifen. »Wahrscheinlich gibt es noch Etagen dazwischen«, überlegte er. »Sonst wird es doch total voll hier unten.«
Diese Gedanken müssen ihn noch eine Weile beschäftigt haben, denn als er in der Silvesternacht mit Onkel Rolfs Hilfe im Hinterhof Raketen abfeuerte, schrie er jedes Mal aus Leibeskräften: »Achtung, die ist für Oma und Opa! Die ist für Großtante Becky! Und jetzt kommt die allerschönste – für Tante Rita!«
Aber die Unbefangenheit Lena gegenüber, die ich so genossen hatte, war vorüber. Es sollte lange dauern, bis sie mich wieder anlachen, meine Wange berühren oder mich in den Arm nehmen konnte, ohne dass ich all das Schreckliche vor Augen hatte, das sie der Flucht meiner Mutter wegen erlebt hatte.
Ich bin sicher, dass sie es gemerkt hat, aber sie tat das einzig Richtige und verhielt sich so, als ob sich nichts zwischen uns geändert hätte. Und als ich zu Ostern endlich wieder nach Jena durfte – diesmal ganz legal, mit meinem alternden Hamster im Gepäck und einem Besuchervisum für die Dauer meiner Ferien! –, als ich an dem mir schon vertrauten Bahnhof ausstieg und meine Familie dort warten sah, da war es Lena, der ich mit einem Riesensatz in die Arme flog und die ich gar nicht mehr loslassen wollte.
Epilog
»Den Bahnhof gibt es immer noch. Wenn man den Berg hochläuft und sich rechts hält, dann kommt man nach kurzer Zeit an das Tempelchen mit der Büste von Ernst Abbe darin, die im Dunkeln golden angestrahlt wird und mich jedes Mal an meine erste Ankunft in Jena erinnert. Der Platz, auf dem sie steht, sieht inzwischen natürlich ganz anders aus, aber manchmal
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