Lilly unter den Linden
Nachbarschaftsstreitigkeiten zu vermitteln. Aber ganz oft hört sie auch einfach nur zu und trinkt mit den Leuten eine Tasse Kaffee.
Onkel Rolf behielt seine Stelle im Verlag. Ein großer Konzern hat den übernommen und vor dem Aus bewahrt, aber immer noch kann mein Onkel nicht die Bücher machen, die er gerne machen würde. Denn nun gibt es zwar keine verbotenen Autoren mehr, aber dafür Bücher, die sich nicht »rechnen«. Onkel Rolf redet gern davon, dass er die paar Jahre bis zur Rente auch noch durchhält. Sein Haar ist, wie um dies moralisch zu unterstützen, schlohweiß geworden, was erstaunlich gut zu ihm passt. Zu Hause ist er viel entspannter und fröhlicher als früher, er hat die Gartenarbeit für sich entdeckt und dabei oft eine kleine Schar Nachbarskinder um sich, die ihm helfen, Wildkräuter für Tees anzubauen. Onkel Rolf und Lena feiern bald ihren dreißigsten Hochzeitstag, und zur Frankfurter Buchmesse fahren sie jetzt jedes Jahr zusammen.
Einmal fuhren sie auch nach Berlin, um die Akten einzusehen, die das Ministerium für Staatssicherheit über sie angelegt hatte. Beide kamen sehr bedrückt zurück. Die Bespitzelung der eigenen Bevölkerung durch die Stasi war noch weit umfassender gewesen, als sie sich hatten träumen lassen. Zu den »Informellen Mitarbeitern« des Geheimdienstes, die unter einem Decknamen von Zeit zu Zeit über Äußerungen und Aktivitäten meiner Tante berichteten, gehörten eine Kollegin und eine Nachbarin, die noch jahrelang mit uns im selben Haus lebte. Onkel Rolfs einziges Treffen mit meiner Mutter in Frankfurt war ebenso in seinen Akten festgehalten wie meine »Kontaktaufnahmen« seit dem Herbst 1988.
Aber mit einem hatte Lena Recht gehabt: Bernd Hillmer war nicht derjenige gewesen, der Rudi mit der Mütze denunziert hatte. Es war eine Frau, die junge Lehrerin Susann, die sich dadurch vielleicht irgendwelche Vorteile versprochen hatte. Was nach der Wende aus Bernd geworden ist, wissen wir nicht. Lena hat gehört, dass er in den Mittleren Osten gegangen sein soll; als ehemaliger hauptamtlicher Mitarbeiter der Stasi hätte er in Deutschland niemals wieder einen Arbeitsplatz gefunden.
Ich habe Bernd trotz allem nicht vergessen, dass er meiner Familie geholfen hat, dass Katrin vielleicht nicht zu ihren Eltern zurückgekehrt und Lena und Rolf durch meinen unbefugten Grenzübertritt womöglich in ernsthafte Schwierigkeiten geraten wären, wenn er sich nicht eingeschaltet hätte. Ich habe ihm auch nicht vergessen, dass er freundlich zu meiner Mutter war. Ich glaube fest daran, dass ein Mensch nicht nur gut oder nur böse ist. Ich verstehe aber auch, dass Lena nach allem, was sie mit der Stasi erlebt hat, so etwas von mir nicht hören will.
Katrin verbindet die Wende-Zeiten mit einem wahren Wechselbad der Gefühle. Gleich zu Beginn unseres Urlaubs in Ungarn hatte sie sich unsterblich in Martin aus Chemnitz verliebt, das zu der Zeit noch Karl-Marx-Stadt hieß. Er campte ein paar Zelte weiter mit seinen Freunden und beinahe wäre sie mit ihm über die Grenze nach Österreich gegangen. Martin nahm es nicht besonders gut auf, dass Katrin sich schweren Herzens dagegen entschied. Die Grenzöffnung zwischen DDR und BRD hielt sie für ein Zeichen des Schicksals, dass es ihr bestimmt sein sollte, Martin wiederzusehen. Aber als sie ihn im darauf folgenden Frühjahr in Berlin besuchen wollte, bereitete er ihr einen ausgesprochen kühlen Empfang. Vielleicht kannte er ihre Geschichte nicht und wusste nicht, was eine andere Flucht vor vielen Jahren in unserer Familie ausgelöst hatte. Katrin brauchte sehr lange, um sich von dieser Enttäuschung zu erholen. Heute arbeitet meine Cousine in einer Computerfirma in Heidelberg und hält Schulungen für Anwender, und wie man so hört, haben Männer bei ihr im Kurs nichts zu lachen.
Till ist mein bester Freund geblieben. Er ist es, den ich anrufe, wenn ich mich freue oder ärgere oder mich selbst nicht mehr verstehe – wenn etwa der riesigen Freude über das Volontariat in einem renommierten Kölner Museum ein plötzlicher, lächerlicher Horror vor meinem Wegzug aus Jena folgt! Wenn es sein muss, kommt er sogar aus Berlin, um mich aufzuheitern. Till ist während seines Journalistikstudiums als Radiomoderator entdeckt worden, was, wie er sagt, seine Rettung war, denn das Studium machte ihm wenig Freude. Er wohnt mit zwei Freunden in einer großen Wohnung in Neukölln und schweigt diskret darüber, dass er offensichtlich von Frauen umschwärmt
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