Lilly unter den Linden
wird. Das Vorsprechen beim Radiosender hat ihm übrigens Pascals Freund Jan vermittelt, was wieder einmal beweist, dass man in den entscheidenden Situationen des Lebens Freunde braucht.
Pascals Freunde wurden nach und nach aus der WG weggeheiratet, bis er schließlich allein übrig blieb und sich entscheiden musste. So behauptet er zwar, aber es ist klar zu sehen, dass er ganz vernarrt ist in seine Birgitta und die zwei kleinen Plotins, die die beiden in die Welt gesetzt haben: Jerome und Christophe. Ich hatte fast ein bisschen Angst, Birgitta kennen zu lernen, und war sehr erleichtert, dass sie keinerlei Ähnlichkeit mit meiner Mutter hat. Sie ist größer als Pascal, rundlich und hübsch – nicht wie eine Fotografie, eher wie ein Gemälde. Wir schlossen einander sofort ins Herz. »Lilly hat noch einen Koffer in Hamburg«, sagt sie gern. Und sie hat Recht, es ist beinahe, als hätte ich dort ein zweites Zuhause behalten.
Frau Giehse ist zwei Jahre nach der Wende gestorben, ihre letzte Trudi hat sie nur um wenige Wochen überlebt. Ich habe ihr noch oft die Kohlen aus dem Keller geholt, später, als sie es selbst nicht mehr konnte, auch für sie eingekauft. Hin und wieder hat sie mir von sich erzählt und davon, wie tief die Geschichte meiner Familie sie erschüttert hatte. »Ich bin seit meiner Jugend Kommunistin, habe Verfolgung und KZ überstanden und bin gleich nach der Gründung der DDR aus Wuppertal hergezogen. Ja, da staunst du: Ich bin auch aus dem Westen gekommen, vor über vierzig Jahren! Meine Verwandten wollten nichts mehr mit mir zu tun haben, aber das war mir egal. Für mich war die DDR das einzige Land, das ernsthaft gegen den Faschismus kämpfte.« Sie schüttelte bitter den Kopf. »Seit dieser entsetzlichen Tragödie habe ich unser Land mit anderen Augen gesehen. Das waren gute Mädchen, alle beide, und sie hatten nichts Unrechtes getan. Es ist gut, dass du zurückgekommen bist, Lilly.«
Frau Giehse konnte übrigens bis zuletzt in ihrer Wohnung bleiben, da alle Nachbarn zusammen für sie sorgten. Ein Ehepaar aus unserem alten Haus kümmert sich heute noch um ihr Grab.
Meggi besuchte mich kurz entschlossen in den Herbstferien nach meiner Übersiedlung. Sie traf gleichzeitig mit dem Telegramm ein, in dem sie ihren Besuch ankündigte, und Onkel Rolf, der mit einer Erkältung das Bett hütete, war das Privileg beschieden, beide in Empfang zu nehmen. Noch während er im Treppenhaus das Telegramm aufschlitzte, stapfte ein »bildschönes strahlendes Wesen in Latzhosen und wilden Locken« auf ihn zu. Onkel Rolf jagte blitzartig der Gedanke durch den Kopf, dass er einen gestreiften Altherrenbademantel und Wollsocken trug und sich an diesem Morgen nicht einmal rasiert hatte, da entsetzte ihn das Wesen auch schon mit den Worten: »Und Sie müssen Onkel Rolf sein! Sie sehen genauso aus, wie ich Sie mir vorgestellt habe!«
Meggi gab ihm die Hand, ging an ihm vorbei in die Wohnung und öffnete zielstrebig die Tür zu Katrins und meinem Zimmer, wo sie ihre Reisetasche abstellte. »Nein, lassen Sie nur«, wehrte sie den schwachen Versuch meines Onkels ab, sie aufzuhalten. »Ich kenne mich aus.«
Die eine Woche, die Meggi bei uns verbrachte, war ein voller Erfolg. Auf Till machte sie solchen Eindruck, dass er von sich aus anbot, auf dem Wohnzimmersofa zu nächtigen und ihr sein Zimmer zu überlassen. Mit Lena diskutierte sie über Politik und über mich, mit Onkel Rolf über »zerbrochene Lebensentwürfe«, mit Katrin ging sie auf eine leider vergebliche Demo gegen die Schließung des Jugendtheaterclubs, dem man die Fördergelder gestrichen hatte. Wenn ich mich recht erinnere, haben sie zusammen sogar ein Schild gemalt: »Der Tod der Kunst – der Anfang vom Ende der Zivilisation«.
Meggi ging derart in meiner Familie auf, dass ihr für mich, ihre beste Freundin, kaum Zeit zu bleiben schien! Immerhin war ich es, der sie am letzten Abend ihren Entschluss mitteilte: »Was soll ich auf irgendeiner langweiligen Elite-Uni? Hier spielt sich das Leben ab! Dieser ganze Aufbruch, der Wiederaufbau, die fundamentalen Lebenskrisen! Lilly, nach dem Abitur studieren wir zusammen in Jena!«
»Und deine Eltern? Die haben dich schon vor Jahren in England angemeldet! Dein Vater hat mir die Prospekte gezeigt!«
»Die haben mich auch nicht gefragt, als sie nach Brüssel gegangen sind. Ich werde ihnen sagen, wie froh ich bin, dass sie mich dazu erzogen haben, meine eigenen Entscheidungen zu treffen!«
Meggis Eltern waren
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