Lilly unter den Linden
passierte. Einige trugen noch ihren Schlafanzug, die meisten weinten, dem Reporter blieb die Stimme weg und Grenzbeamte bekamen Blumen überreicht. Mein eigenes Schluchzen wurde mir erst bewusst, als die Nachtpförtnerin (die mich anschließend bat, sie Hilde zu nennen) mich in den Arm nahm und drückte, bis mir die Luft wegblieb.
»Jetzt kannst du endlich rüber zu deinen Leuten!«, sagte sie. »Bald wird es dort so sein wie bei uns.«
Und so kam es, dass ich, obwohl ich im folgenden Sommer nach Jena umziehen durfte, nur ganz kurze Zeit in der DDR gelebt habe. Denn erst kam die D-Mark, dann der Beitritt der DDR zur Bundesrepublik – und auf einmal lebte ich wieder in der BRD, wenn auch in den »neuen Bundesländern«!
Ist es wirklich so geworden wie »bei uns«? Ich weiß es nicht. Es ist schwer zu sagen, da sich auch in Westdeutschland seitdem so vieles verändert hat. Sicher ist, dass nicht alle glücklich geworden sind, dass es vielen nicht schnell genug geht und andere von den Veränderungen derart überrumpelt wurden, dass sie sich wieder nach »der guten alten DDR« zurücksehnen, mit Mauer und allem, wo man wenigstens wusste, woran man war. Und dass es immer noch genügend Menschen gibt, die kein Interesse daran haben, die von der anderen Seite auch nur kennen zu lernen.
Warum wir nicht einfach das Beste aus beiden Systemen übernommen hätten, wollte ich von Lena einmal etwas naiv wissen, dann könnten doch alle zufrieden sein. Sie hob bloß die Schultern. »Darauf wollten die meisten nicht warten«, erwiderte sie. »Den Menschen bei uns ist zu spät bewusst geworden, dass sie auch etwas zu geben hatten.«
Und: Die DDR war seit Jahren pleite. Der technische Standard lag weit hinter dem des Westens zurück und verkraftete den Übergang zur Marktwirtschaft nicht. Alteingesessene Firmen gingen ebenso Konkurs wie marode Fabriken, für deren Modernisierung sich kein Investor fand, und die traditionellen Absatzmärkte der DDR in Osteuropa brachen innerhalb kürzester Zeit zusammen, nachdem die Waren in D-Mark bezahlt werden mussten. Arbeitslosenzahlen schnellten in die Höhe und selbst die, die noch Arbeit hatten, merkten bald, dass ihr Lohn bei weitem nicht für all die schönen neuen Dinge reichen würde, die nun endlich in den Läden angeboten wurden. Gewiefte Geschäftsleute aus der alten Bundesrepublik nutzten die Gunst der Stunde und machten satten Gewinn mit den Träumen der Neubürger. Für viele wurde es das böseste Erwachen, das man sich vorstellen kann.
Ein Exodus begann – der Arbeit hinterher. Wer in den Plattenbauten am Rande der großen Städte lebte, musste mit ansehen, wie es nachts hinter immer mehr Fenstern dunkel blieb; wer sich im Westen um einen Arbeitsplatz bewarb, hatte mit einem Mal Konkurrenz aus dem Osten. Betrug!, schrie es auf beiden Seiten. Den einen hatte man »blühende Landschaften« versprochen, den anderen, dass es sie keinerlei Opfer kosten würde. Nun gaben sie einander die Schuld. Neue Begriffe tauchten auf und fanden sogar Eingang in die Wörterbücher: »Ossi« und »Wessi«.
»Als wäre die Grenze noch da«, konstatierte ich etwas traurig nach meinem ersten Schuljahr. Die neuen Klassenkameraden – ein Jahr jünger als ich, da ich wegen meiner nicht nachweisbaren Russischkenntnisse vorsorglich eine Klasse zurückgestuft worden war – gaben mir von Anfang an zu verstehen, dass ich nie richtig dazugehören würde. Zwar fand ich nach und nach einige, wenn auch nicht sehr enge Freundinnen, doch bei manchen hat sich das Misstrauen bis zum Abitur nicht gelegt.
Lena tröstete mich: »Das gibt sich schon wieder. Es braucht nur viel mehr Zeit, als alle gedacht haben. Irgendwann muss es aufwärts gehen, und dann sind auch die Leute wieder freundlicher zueinander.«
Lena war nach der Wende unter den Ersten, die ihren Arbeitsplatz verloren. Der Buchhandlung blieben die Kunden weg und auch The Mousetrap lösten sich auf, weil zwei Bandmitglieder in den Westen gingen und ohnehin niemand mehr politische Lieder hören wollte. Seitdem hat sie alles Mögliche gemacht, von Hausaufgabenbetreuung über Stadtführungen bis hin zur halbehrenamtlichen Arbeit für das »Bündnis 90«. Schließlich landete sie über eine Arbeitsbeschaffungsmaßnahme in einem Bürgerbüro, wo sie heute noch arbeitet und sich der mannigfachen Sorgen der Jenenser annimmt. Sie schreibt Eingaben an Behörden, hat eine kleine Verbraucherbibliothek eingerichtet und wird hin und wieder sogar gebeten, in
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