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Lillys Weg

Lillys Weg

Titel: Lillys Weg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Renate E. Daimler
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eine Frau in ihrer Lage. Er wusste nichts davon, aber Lilly war sich sicher, dass er sie nicht abweisen würde.
    Der kleine Ort, in dem der Priester mit seiner Frau, die es offiziell nicht sein durfte, lebte, hatte keine eigene Autobahn­abfahrt. Sie fuhr ab Innsbruck auf kleinen Nebenstraßen und war erleichtert, als die kleine, weiße Kirche mit dem grauen Zwiebelturm auftauchte. Die Haushälterin öffnete ihr die Tür, als sie beim Pfarramt läutete, und bat sie erfreut und überrascht herein. Lilly hatte die beiden vor längerer Zeit anonym zum Thema „Gottes Stellvertreter und ihre Frauen“ interviewt.
    Die beiden saßen gerade bei Kaffee und Apfelstrudel und wunderten sich nicht, als Lilly mit der Tür ins Haus fiel: „Ich brauche einen sicheren Ort, an dem ich mit meinem Mann telefonieren kann.“ Jeder im Land kannte die Geschichte aus den Medien, sie musste nichts erklären. Der Pfarrer nickte und stand auf: „Es ist besser, wenn wir zu ihm hinübergehen.“ Mit „ihm“ meinte er Gott, mit dem er, im Gegensatz zur katholischen Kirche, ein gutes Verhältnis hatte. Die Frau hielt ihn zurück: „Das hat Zeit. Das Kind braucht einen Kakao und Frau Baldini einen Kaffee.“
    In der Kirche war es angenehm ruhig. Die Dorfbewohner waren mit Weihnachtsvorbereitungen beschäftigt, die Chorprobe für die Mette würde erst am Abend stattfinden. Lea war begeistert von den lebensgroßen Krippenfiguren aus Holz, die vor einem Nebenaltar standen. In der Sakristei, vor der der Priester jetzt Wache hielt, roch es nach Weihrauch und Kerzenwachs. Lilly hatte ausnahmsweise Letizia gebeten, Oskar ans Telefon zu holen. Sie hatten beschlossen, sie so wenig wie möglich zu belasten. Aber manchmal gab es keine andere Möglichkeit. Jetzt hörte sie Lea zu, wie sie ruhig und ernst mit ihrem Vater sprach. Sie versicherte ihm, dass es ihr gutging und dass sie sich auf Weihnachten freute. Als sie ihrer Mutter den Hörer weiterreichte, war ihr Gesicht verschlossen und traurig. Niklas war nicht mitgekommen. Er wollte nicht mit ihr und seiner Mutter reden. Lilly hätte Lea gerne in den Arm genommen. Aber am anderen Ende der Leitung wartete Oskar darauf, dass sie ihn tröstete. Sie spürte wieder einmal ihre Zerrissenheit. Doch nur für einen Augenblick. Es war das zweite Mal, dass Oskar am Telefon weinte: „Ich sehne mich so nach euch, Lilly!“ Sie war froh, dass Niklas sich geweigert hatte, ihn zu begleiten.
    Im Auto war es die ersten zehn Minuten eisig, als sie weiterfuhren, und die fröhliche Stimmung, die bis zum Telefonat mit Oskar angehalten hatte, war vorbei. Erst als das Bödele, die Pforte zum Bregenzerwald, ihr einen Panoramablick auf tief verschneite Berge schenkte, kehrte ein kleiner Funken Zuversicht zurück. Weihnachten in Mellau. Früher war ihre Mutter immer nach Wien gekommen. Bis Clarissa in ihr Leben getreten war. Von da an blieb sie im Bregenzerwald.
    Seit ihr Schwiegersohn auf der Flucht war, fühlte sie sich der besten Freundin ihrer Tochter noch mehr verbunden. Leander, Ellas Mann, hielt sich aus der Geschichte heraus. Er urteilte nicht, aber er wollte auch nichts von den „Fluchthelferinnen“ wissen. „Wenn ihr etwas von mir braucht, bin ich da“, war alles, was er bisher gesagt hatte. Der Tag, an dem die Zeitungen auf der ersten Seite die Schlagzeile „Fangt die Verbrecher“ druckten, war für Lillys Mutter und Ella, die beide sowieso nie richtig dazu­gehört hatten im Dorf, nicht leicht. Es gab immer wieder Getuschel, dass sie nackt ums Feuer tanzten und einer religiösen Sekte angehörten, weil die Dörfler ihre Schwitzhüttenrituale nicht verstanden.
    Als Ella Lilly zum ersten Mal betroffen von den Gerüchten erzählt hatte, war ihre Reaktion spontan: „Was für ein schöner indianischer Ehrenname. Du bist von nun an ‚die, die nackt ums Feuer tanzt.‘“ Gleichzeitig verstand sie ihren Schmerz. Es war hart, ausgeschlossen zu sein. Für ihre Steinzeitahninnen hatte es den Tod bedeutet. Sie konnten nur in der Gemeinschaft über­leben. Und nun gab es auch noch einen „Verbrecher“ in der Familie. In einem kleinen Dorf wird hart geurteilt und viel geredet. Das ist überall so.
    Am Abend schmückte Lilly mit ihrer Mutter den Weihnachtsbaum. Lea durfte nicht aufbleiben, weil sie noch ans Christkind glauben sollte. Sie hatte schon

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