Lillys Weg
vor Wochen ihren Wunschzettel geschrieben und ihn ihrer Mutter lächelnd in die Hand gedrückt: âDen braucht die Omi, sie glaubt noch dran.â
Lilly durfte ihrer Mutter nur helfen. Das hatte Tradition. Und als sie jetzt die alte Krippe auspackte und ihr die Figuren reichte, fühlte sie sich für einen Moment glücklich und geborgen. Sie hörte ihr zu, wie sie ihnen ihre angestammten Plätze zuwies. Und als Lilly ungeduldig wurde und ein Lamm links neben die Krippe stellte, sagte ihre Mutter: âNein, nein, du musst nicht hier stehen, das weià sie nur nicht. Du hast deinen Platz rechts neben dem Jesuskind, genau vor dem Ochsen. Das hat schon meine Oma so gemacht.â
23. Dezember 1988
Gestern war ein guter Abend. Heute fühle ich mich elend, sperre mich in meinem Zimmer ein und heule. Morgen ist Weihnachten, und ich will nicht hier sein. Meine Sehnsucht nach Oskar und Niklas wühlt in meinen Eingeweiden wie ein wildes Tier.
Am späteren Nachmittag lasse ich Lea bei ihrer GroÃmutter und laufe durch den frisch gefallenen Schnee zu Ella. Ich brauche jemanden, der mich für einen Augenblick hält. Mama kann das nicht. Sie ist so betroffen, wenn es mir schlecht geht, dass ich sie trösten muss.
Ella öffnet mir die Tür, sieht mein Gesicht und breitet ihre Arme aus. Meine Einsamkeit perlt an mir herunter wie Eis, das schmilzt. Sie rinnt aus meinen Augen, sie macht meine Knie weich, und als Ella mich wortlos auf ihr Sofa bettet und mich wie ein kleines Kind in den Armen wiegt, weià ich, dass ich mich schon seit Monaten danach sehne. Einfach gehalten werden. Ralf kann das auch. Aber am weichen Busen von Ella zu liegen, ist noch einmal etwas anderes.
Meine Augen sind geschwollen vom Weinen, und ich trinke das zweite Glas WeiÃwein, als der Mut zu mir kommt, der vielleicht besser Ãbermut heiÃen sollte.
âWir müssen zu Oskar und Niklas, bitte, hilf mir dabei. Ich habe schon einen Plan.â Ella nickt. Sie kennt mich gut, sie weiÃ, dass ich zu allem entschlossen bin.
24. Dezember 1988
Der Heilige Abend mit Mama, Lea, Ella und Leander war so leicht und schön wie die Engel mit den weiÃen Flügeln aus Federn, die am Christbaum hängen. Die Rituale haben sich seit meiner Kindheit nicht geändert. Zuerst muss vor dem Weihnachtsbaum eine bestimmte Anzahl von Liedern gesungen werden, dann gibt es die Geschenke und später ein kaltes Buffet mit einem Gemüsemayonnaisesalat, wie ihn nur meine Mutter machen kann.
Mein Herz ist froh, ich teile mit meiner Freundin ein Geheimnis, und Lea, damit sie nicht traurig ist, weià einen Teil davon: âWir fahren morgen zum Papa, das verspreche ich dir.â Meine Mutter weihe ich nicht ein, sie würde umkommen vor Sorge. Ich denke an meinen Schwur. Ralf hat ihn mir abverlangt: âVersprich mir beim Leben deiner Kinder, dass du am Heiligen Abend nicht zu Oskar fährst.â Ich habe mein Versprechen gehalten.
25. Dezember 1988
Es ist Heiliger Tag. Ich sitze mit Lea auf einer Kiste in einem weiÃen Lieferwagen ohne Fenster und versuche, mich irgendwie festzuhalten. Ich höre die Mittagsglocken der Pfarrkirche von Bregenz läuten und schicke ein Gebet zum Himmel. Es riecht nach Küche und schmutziger Wäsche. Der Mann, der uns fährt, ist der Schwager von Annemarie. Wir sind, nur mit einem Hotelbademantel bekleidet, aus der Sauna in den groÃzügigen Freiluftbereich hinausgetreten und von dort durch eine schüttere Hecke auf den Parkplatz des Hotels geschlüpft. Man kann ihn vom Eingang nicht sehen. Der Lieferwagen stand, die Tür schon für uns geöffnet, ganz nahe an der Hecke, und unsere Kleider lagen ordentlich gefaltet oben auf einer Wäschekiste. Wir nehmen uns nicht die Zeit, sie jetzt anzuziehen. Das hat Zeit bis später.
Es hat Minusgrade und das Auto ist ungeheizt. Wir zittern vor Angst und Kälte und ziehen uns endlich Hosen und dicke Pullis an. Ich kenne den Weg. Jede Kurve, jede Ampel, an der wir Âanhalten, ist mir vertraut. Ich bin diese Strecke im Sommer mehrfach probeweise gefahren. Es wird nicht lange dauern, dann sind wir in Sicherheit.
Lindau liegt nur ein paar Kilometer von Bregenz entfernt. Zwei Perlen am Bodenseeufer, die es nicht nötig haben, in Konkurrenz zu treten. Im Sommer gibt es genug Gäste für alle und im Winter ist hier wie dort wenig los. Die Lindauer bezeichnen den Pfänder, dessen Rücken sie verbindet,
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