Lillys Weg
geÂwachsen und hat die gesunde Farbe eines Kindes, das in der ÂNatur lebt. Seine Augen strahlen und sein breiter Mund lächelt. Ich bin erleichtert. Ich spüre, dass die Zeit mit seinem Vater ihm gutgetan hat. Ich will es so spüren. Alles andere könnte ich mir nie verzeihen.
Oskar hält Lea im Arm. Jetzt darf sie weinen. Die Anspannung der letzten Stunden bekommt endlich ein Ventil.
Als die Kinder sich von uns lösen und einander in die Arme fallen, gehört der Raum uns. Doch wer hält wen? Wir sind beide bedürftig. Die Frage stellt sich nur für eine Sekunde. Dann nehme ich Oskar in den Arm. Sein Körper hat sich verändert. Er war immer sportlich. Aber jetzt ist er ein Naturmensch geworden und ich spüre seine harten Muskeln. Sie stehen ihm gut.
Ella kommt zurück. Wir sitzen am Tisch, es gibt selbst gebackene Weihnachtskekse und Kaffee. Die Kekse sind gesund und schmecken gewöhnungsbedürftig. Oskar bemerkt, dass ich mein Gesicht verziehe: âWir haben unsere Ernährung umgestellt und mahlen in Letizias Küche unser Mehl selber.â Ich lächle ihn Âzärtlich an. Der Begriff âHeiliger Tagâ für diesen ersten Weihnachtstag bekommt eine neue Bedeutung.
Oskar war beeindruckt von Lillys Fluchtchoreografie: âDu solltest Kriminalromane schreiben.â Doch dann wurde seine Stimme wieder ernst: âIch weiÃ, was du und Lea alles auf euch Âgenommen habt, um bei uns zu sein, und es gibt so viele Menschen, die uns unterstützen. Ich freue mich jetzt schon, wenn ich sie eines Tages an einen Tisch einladen und mich bedanken kann.â
Ella setzte ihren kühnen Blick auf, den Lilly so gut kannte, und sagte: âUnd warum nicht an Silvester? Ich kenne am Pfänderrücken, noch auf der deutschen Seite, aber ganz nah an der österreichischen Grenze, ein Gasthaus, in dem eine alte, fast blinde Frau nichts anderes als Kässpätzle kocht. Sie ist in der ganzen Gegend berühmt dafür. Die Bauern in den umliegenden Höfen vermieten Zimmer an ihre Gäste. Sie fragen nicht nach Daten und Namen und können das kleine Zubrot gut gebrauchen. Ich kann das für uns organisieren.â
Als Ella spät am Abend allein wieder abfuhr, war der Abschied leicht. Nur ein paar Tage, dann würden sie einander wiedersehen.
Lilly stapfte zornig durch den Schnee. Es war früher Morgen, aber noch dunkel. Der Schnee fiel in dicken, herrlichen Flocken auf den Weg, der zum See führte, und legte sich wie eine weiÃe Kuchenglasur auf die Bäume. Für einen Augenblick erinnerte sie sich an das Lebkuchenhaus, das ihre Oma immer in der Woche vor Weihnachten gebacken hatte. Sie durfte ihr dabei helfen und mit einem dicken Pinsel das Dach und die Tannen mit Zuckerschnee anstreichen. Sie liebte Schnee, aber jetzt war sie in ihrem Kopf gefangen, und ihre Gedanken und Gefühle schossen wie giftige Pfeile umher, die in ihrem Körper bekannte Schmerzen auslösten. Sie wusste, dass sie sich gerade eine ungünstige Realität erschaffte und kannte den Verlauf aus ihrer Vergangenheit mit Oskar nur zu gut: Wut, Verzweiflung, Trauer, Rückenschmerzen, Angst, Bedauern, Frieden, Neubeginn. Das war die explosive Mischung, in die sie sich immer wieder verwickelte. Früher, als es um andere Frauen ging, gehörte dieser Zustand zum Standard. Jetzt war er eine Ausnahme, und dennoch nicht weniger schmerzlich. Lilly fühlte sich von ihrer Liebe zu Oskar abÂgeschnitten und war in ihrem Zorn gefangen. Sie hätte ihren Zustand am liebsten ausgezogen wie einen alten Mantel, der längst nicht mehr passte, aber es glückte ihr nicht. Eigentlich hatte sie geglaubt, dass sie durch die gemeinsame Not gereift waren, dass dieser groÃe Transformationsprozess ihre Beziehung für immer geläutert hatte.
Sie hatte das Wasser erreicht. Der See lag wie ein alter, vertrauter Freund in der Stille dieses frühen Morgens vor ihr. Sie atmete tief durch und lieà die Zeit seit ihrer Ankunft noch einmal Revue passieren.
Der erste gemeinsame Tag hatte der Familie gehört. Lea saà die meiste Zeit auf dem Schoà ihres Vaters und Niklas lag in Lillys Armen auf dem Sofa. Zwischendurch kochten und aÃen sie gemeinsam und lachten über die junge Katze, die einem Knäuel aus Wollfäden nachlief. Sie hieà Filou, Niklas hatte sie angelockt. Ihre Mutter war die Grand Dame, die das Haus von Letizia regierte und dafür sorgte, dass
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