Lillys Weg
ganze Bespitzelung hing ihr zum Hals heraus. Sie wollte endlich wieder einfach nur eine JourÂnalistin sein. Kollegin unter Kollegen. Es gab keine normalen Gespräche mehr. Jeder wollte mit ihr über den Fall reden. Die Redakteurinnen der Frauenzeitungen wollten ein Porträt über ihre Tapferkeit schreiben, die anderen hofften auf ein Interview zu Oskars Lage. Das war der Preis dafür, dass sie wieder ein ânormales Lebenâ führte.
Ralf hatte sich dafür eingesetzt: âDu kannst so nicht weitermachen. Du musst wieder hinaus, Pressekonferenzen wahrnehmen, durch die Innenstadt spazieren, mit mir Lokale besuchen, du kannst dich nicht auch noch in Wien verstecken.â
In der Nacht nahm sie ihr Tagebuch zur Hand und schrieb über ihren SpieÃrutenlauf.
Ich spüre ihre Blicke. Sie sind überall. Wenn ich Blumen kaufe, sieht mich die Verkäuferin mitleidig und lüstern zugleich an. Sie wird ihrem Mann heute beim Abendessen erzählen, dass die âFrau des Verbrechers, der geflüchtet istâ heute hier war. Wenn ich über den Markt schlendere, erkennen mich die Standler von meinem Bild in den Zeitungen wieder. Früher war ich die Ânette junge Frau, die sie mochten, weil sie meistens lächelte, wenn sie ihr Wechselgeld entgegennahm, und sie schenkten mir einen Pfirsich. Sie schenken mir noch immer einen Pfirsich, aber jetzt sehe ich das Mitleid in ihrem Blick. Ich muss mich daran Âgewöhnen, dass sie hinter mir tuscheln, sobald ich ihnen den Rücken kehre. Doch es gibt Schlimmeres als das Mitleid und die Sensationsgier. Manchmal, wenn ich das Haus verlasse, steht einer der Fotografen vor meiner Tür und drückt einfach ab. Ich kenne sie fast alle. Doch sie fragen mich nicht, weil sie wissen, dass ich Nein sagen werde. Sie brauchen neue BilÂder, und ich bin eine öffentliche Person. Und wenn ich meine alten Lokale besuche, in denen mich jeder kennt, werde ich angestarrt, als ob mir über den Sommer ein Buckel gewachsen wäre.
Doch es gibt auch Gutes. Alte Freunde, die im Strom der Zeit verloren gegangen sind, melden sich wieder und bieten ihre Hilfe an. Kolleginnen und Kollegen solidarisieren sich mit mir und garantieren eine faire Berichterstattung, falls ich mich äuÃern möchte, und gestern kam ein groÃer Auftrag einer deutschen Zeitung. Sie wollen meine Geschichte zum Thema âSex im Alterâ als Serie bringen und damit mein Buch promoten, das in zwei Wochen erscheint.
Und plötzlich, als ob das Leben mir eine kleine Verschnaufpause in diesem schrecklichen Kriminalroman gönnen möchte, bin ich zum ersten Mal als Gast in einer Talkshow eingeladen. Es soll um ältere Frauen gehen, die jüngere Männer lieben. Ich bereite mich innerlich darauf vor und übe meine Brandrede, dass Frauen auch hier benachteiligt sind: âWer hat sich je darüber gewundert, wenn ein alter Mann sich in eine jüngere Frau verliebt? Im Gegenteil. Er wird für seine Potenz gelobt und die Zwanzig- oder DreiÃigjährige an seiner Seite gilt als Statussymbol. Der schöne Greis wird in der Literatur besungen, die schöne Greisin kommt nicht vor. Sie wird ihres Unterleibes beraubt und ins Reich der Dürre abgeschoben â¦â
Da kam Ralf herein und setzte sich mit einer Pobacke auf Âmeinen Schreibtisch: âLilly, du willst doch nicht im Ernst in dieser Talkshow auftreten? WeiÃt du, was das bedeutet, wenn Millionen dein Gesicht auf dem Bildschirm sehen? Und ein paar Wochen später möchtest du dich wieder an eurem See versteÂcken? Und wer garantiert dir, dass der Moderator dich nicht auf dein persönliches Schicksal anspricht? Es ist eine Livesendung, du kannst es nicht verhindern.â
Kurz war die Tür zu meinem engen Käfig offen. Jetzt hat Ralf sie wieder geschlossen. Er hat recht. Mitgefangen, mitgehangen. Für mich gibt es kein normales Leben mehr. Ich fürchte mich schon vor meiner Buchpräsentation.
Es war ein Abend, der hätte glanzvoll sein können. Lilly, mit ihrem Gespür für gute Inszenierungen, hatte einen riesengroÃen, altmodischen Kosmetiksalon in der Innenstadt für das Event ausgewählt. Sie kannte ihn, weil sie seit Jahren hier die drei Âeinzigen Dinge, die sie in ihre Schönheit investierte, erledigte: Augenbrauen zupfen, Wimpern färben, Beine enthaaren. Zeit genug, um in den Nebenkabinen die Geständnisse der reifen Damen mitzuhören und in
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