Lillys Weg
ihrem Notizbuch unter Wahrung der Anonymität eine der kleinen Geschichten zu verarbeiten.
Die fast hundert Gäste aÃen, tranken und hörten den Worten des Verlegers und ihrer Lesung zu. Sie fühlte sich wohl wie schon lange nicht. Dann kamen die Interviews. Die Kollegen stellten sich für ein Gespräch mit ihr bei der Pressedame des Verlages an, das Interesse war groÃ.
Als das Ereignis zu Ende war und Lilly erschöpft mit Ralf
im Gläsernen Elefanten einen Absacker trank, war sie zutiefst deprimiert: âSie meinen nicht mich und mein Buch. Sie wollen alle mit mir über Oskar reden.â Ralf legte den Arm um sie: âDie Umstände sind, wie sie sind. Du kannst nur mit dem Fluss flieÃen â¦â
Lilly seufzte und sprach mit Ralf über Weihnachten.
09 Wir sind Bauern, wir brauchen das Wasser nur fürs Vieh.
10 Wir brauchen keinen Sport, wir werden vom Viehhüten müde.
11 Man muss das Beste daraus machen.
6. Kapitel
10. November 1988
Das Wort Weihnachtsvorbereitungen hat eine neue Bedeutung bekommen. Bisher war es für mich mit hektischen Menschen im Kaufwahn, dem Duft von selbst gebackenen Keksen und mit Erinnerungen an meine Oma im Bregenzerwald verbunden. Mit ihr ging ich immer am 23. Dezember in den Wald, um Moos zu suchen, damit âdas Jesulein und die Tiere im Stall weich liegen könnenâ. Ich kannte auch den Ort, an dem das Christkind seine Geschenke aufbewahrte. Es war ein Spielzeugladen in der Bregenzer KaiserstraÃe. Sie nahm mich eines Tages mit, und die Seniorchefin, eine Wälderin aus Bezau, führte uns durchs Haus, in dem sich Hunderte von Paketen, in weiÃem Papier mit goldenen Sternen verpackt, bis zur Decke stapelten. Das Treppenhaus war voll davon, und sogar im Kinderzimmer, in dem ihre Enkel schliefen, war die Tapete mit den kleinen Hunden und den bunten Sonnenschirmen fast verschwunden, weil nummerierte Schachteln die Wände zudeckten. Ich beneidete die Kinder, die hier mitten im Spielzeugparadies lebten, auch wenn die Geschenke dem Christkind gehörten, das sie am 24. abholen und verteilen würde.
Meine Weihnachtsvorbereitungen waren bisher bescheiden. Sie bestanden aus raffinierten Plänen, wie wir Oskar und Niklas am See besuchen könnten. Gestern hat Ralf mich endgültig davon überzeugt, dass das Risiko zu hoch ist. Wir müssen darauf verzichten, uns an Weihnachten zu sehen. Ich habe Angst davor, mit Lea ohne die beiden vor dem Christbaum zu stehen. Wir werden singen und meine Stimme wird zittern, weil mir Oskars warmer Bariton und Niklasâ Kichern mitten in âStille Nacht, Heilige Nachtâ fehlen werden. Ich liege jede Nacht wach und überlege mir, ob es nicht doch einen Ausweg gibt. Doch jedes Mal, wenn ich an Fluchtpläne denke, krampft sich mein Magen zusammen. Die Polizei wartet wahrscheinlich nur darauf, dass ich den emotionalen Druck nicht aushalte und sie auf seine Spur führe. Es ist wie beim Tempelhüpfen. Ich springe zwischen Verstand und Gefühl hin und her. Heute Morgen habe ich mich endgültig entschieden.
Ich rufe Mama an: âKann ich mit Lea an Weihnachten zu dir kommen?â Meine Stimme klingt normal. Zu normal. Ich bin wie meine Tochter, ich möchte meine Mutter nicht mit meiner Verzweiflung belasten.
Mama antwortet fröhlich. Ich weiÃ, dass sie sich ihre Fröhlichkeit aufgesetzt hat wie einen Hut, der nicht ganz passt. âWie schönâ, jubelt sie. âIhr wart schon jahrelang nicht bei mir an Weihnachten.â Ich denke, ja, Mama, und jetzt komme ich in den Bregenzerwald, weil mein Mann als angeblicher Verbrecher in ganz Europa gesucht wird. Und sage laut: âWir werden am
22. Dezember ankommen und über das Neue Jahr in Mellau bleiben.â
In der Redaktion war Lilly den ganzen nächsten Tag so bedrückt, dass sie es kaum schaffte, die letzten Korrekturen von âVerwanztes Wienâ zu schreiben. Sie schleppte ihre Entscheidung mit sich herum wie eine Eisenkugel, die ihr ans Bein gekettet war. Gefangene ihrer eigenen Gedanken. Ralf, der, wie immer, ihre Stimmung gut spürte, schlug vor, den Abend endlich wieder einmal bei Lefti zu verbringen. Lilly sagte apathisch zu, weil Lea heute ohnehin bei Johanna schlief.
Das Lokal war voll und Lefti kam ihnen strahlend entgegen: âIhr habt Glück, ich wollte gerade euren Tisch vergeben!â Zwei Musiker in griechischen Trachten stimmten in einer Ecke des Lokals ihre
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