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Lillys Weg

Lillys Weg

Titel: Lillys Weg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Renate E. Daimler
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ebenfalls als ihren Hausberg, auch wenn die Bregenzer der Meinung sind, dass er ihnen gehört. Einmal in hundert Jahren friert der See zu. Dann hebt die Natur die Staatsgrenzen auf, die die Menschen erschaffen haben.
    Der weiße Wäschereiwagen fuhr zügig am Ufer entlang. Inzwischen saß Annemarie am Steuer. Ihr Schwager hatte beim Milchpilz, einem kleinen Kiosk am Seeufer, angehalten und war mit gerunzelter Stirn in Annemaries Auto weggefahren. Er hatte immer gewusst, dass die Frau seines Bruders eine Verrückte war, und gleichzeitig bewunderte er ihren Mut. Vielleicht lag es an den wilden Ahninnen. Er wusste aus dem Geschichtsunterricht, dass während der Schwedenkriege, als alle Männer an der Front waren, der Bregenzerwald aus dem Hinterhalt angegriffen wurde. Damals hatten die Frauen ihre weißen Trachten, die Juppen, angezogen und waren den Feinden mit Mistgabeln und Sensen entgegengestürmt. Die Schweden glaubten an ein Geisterheer und traten entsetzt die Flucht an.
    Und jetzt half diese verrückte Wälderin einer Freundin aus der Schulzeit bei der Flucht vor den Polizisten, die wahrscheinlich in Zivil in der Hotelhalle gesessen oder vor der Türe im Auto gewartet hatten. Er hatte ihr auch noch versprechen müssen, es seinem Bruder nicht zu sagen. Auf der anderen Seite schuldete er ihr einen Gefallen. Sie hatte ihn mit seiner Geliebten in einem kleinen Gasthof in Weiler erwischt, als sie nach einer Wanderung zum Wasserfall in der Kesselschlucht dort eingekehrt waren. Der Schock war so groß, dass er die Affäre sofort beendet hatte. Er liebte seine Frau.
    Der Grenzbeamte nahm keine Notiz vom weißen Lieferwagen mit der Wäschereiaufschrift. Er erwiderte das strahlende Lächeln der Frau am Steuer nicht und winkte sie einfach durch. Wahrscheinlich war er frustriert, dass er am ersten Weihnachtstag seine Weihnachtsgans nicht in Ruhe zu Hause auf dem Sofa verdauen konnte.
    Annemarie klopfte an die Wand hinter sich. Das war das Zeichen, dass es vorbei war. Sie hatten es geschafft. Sie waren in Lindau am Bodensee, einer Stadt in Deutschland, die Lilly nie mehr vergessen würde.
    Ella wartete mit ihrem Jeep am Bahnhofsparkplatz. Sie umarmte Annemarie und wartete ungeduldig auf Lilly und Lea, die sich im Lieferwagen fertig anzogen.
    25. Dezember 1988
    Manchmal schreibe ich schon in Gedanken in mein Tagebuch, auch wenn ich sie erst später zu Papier bringen kann. Ich schwöre mir, dass es das letzte Mal ist, dass wir flüchten. Ich ertrage
es nicht mehr. Die Anspannung, die Angst, die Unsicherheit. Es muss ein Ende haben! Später, in ein paar Jahren, wenn Lea erwachsen sein wird, werde ich sie fragen, was das Schlimmste war in der Zeit, als ihr Papa sich verstecken musste. Sie wird mir antworten, dass es Aktionen waren wie diese hier. Ich bin mir bewusst, dass es für ein Kind unzumutbar ist, was wir erleben.
    Die Fahrt in dem Lieferwagen ohne Fenster hat jede einzelne meiner Zellen in Aufruhr gebracht. Ich sitze nun zutiefst erschöpft hinter Ella, die schlafende Lea im Arm. Wir fahren auf deutschen Landstraßen, irgendwann werden sie in die Autobahn Richtung München münden. Ella wird uns direkt zu Oskar und Niklas bringen. Sie wird die Erste sein, die sein Versteck kennenlernt.
    Das kleine Häuschen trägt eine dicke Haube aus Schnee. An den Fenstern kleben silberne Sterne, wahrscheinlich hat Niklas sie ausgeschnitten. Vor der Tür steht ein großer Schneemann. Er trägt eine schwarze Wollhaube, die ich als Oskars erkenne, und eine Gelbe Rübe als Nase. Seine Augen und sein Mund sind liebevoll aus kleinen Kohlestückchen geformt.
    Wir stellen uns leise ans Fenster und schauen den beiden einen Augenblick zu. Oskar liest Zeitung, Niklas hält einen Buntstift in der Hand und schaut nachdenklich auf ein Blatt Papier. Auf ­einem kleinen Tisch steht ein bunt geschmückter Weihnachtsbaum, darunter eine selbst gebaute Krippe. Lea hält es nicht mehr aus und stürmt einfach ins Haus.
    Ella drückt meine Hand: „Ich schau’ mir zuerst einmal die Gegend an, schön ist es hier“, und verschwindet Richtung See.
    Wie schon oft, seit Oskar geflüchtet ist, weine ich gleichzeitig aus Schmerz und Freude. Ich halte Niklas im Arm und meine Tränen fallen auf seinen Kopf. Vier Monate ohne meinen Sohn. Eine Ewigkeit! Wie habe ich das ertragen? Und wie war das für ihn? Ich halte ihn einen Augenblick von mir weg. Er ist

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