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Lillys Weg

Lillys Weg

Titel: Lillys Weg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Renate E. Daimler
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und war mit einem Anthropologen zu staubigen Ausgrabungsfeldern gereist, obwohl die alten Knochen sie nicht interessiert hatten.
    Jetzt konnte sie einfach nach ihrem Kaffeehausbesuch ungestört im Bett liegen, dem Meer zuhören und in die Luft schauen. Wenn Lilly Hunger hatte, fragte sie niemand anderen, was er essen wollte, um sich danach zu richten. Sie spazierte einfach den Strand entlang, in entgegengesetzter Richtung zur Touristenmeile, und fand nach kurzer Zeit ein kleines Lokal, das ihr gefiel. Im Beduinenzelt am Strand war es zu windig, aber im Restaurant, von dem sie in die offene Küche sehen konnte, gab es eine geschützte Ecke mit Blick aufs Meer. Als Lilly es sich auf den Beduinenkissen, in ihren Mantel eingehüllt, bequem gemacht hatte, bemerkte sie, dass das Lokal in der Mitte offen war. Mitten in diesem Karree stand eine große Palme und wuchs ungestört in den Sternenhimmel. Es fühlte sich alles so richtig an. Es war, als ob die Wesen aus dem Bregenzerwald mitgekommen wären, um sie zu führen. Sie spürte, was „All eins sein“ bedeutet, und das Meer hörte ihr zu, als sie es laut aussprach.
    Lilly wachte am nächsten Morgen gerädert und unausge­schlafen auf. Sie hatte Angst um Oskar, Angst um ihre Kinder und Angst um ihre eigene Zukunft. Lilly wusste nicht, was sie falsch gemacht hatte. In den vielen schlaflosen Stunden waren die lauten Wellen quälend durch ihr Hirn gerollt und hatten, gemeinsam mit dem Wind, der an Fenster und Türen rüttelte, ihren Schlaf gestohlen. Der Tag gestern, den sie so genossen hatte, erschien ihr heute wie ein frivoler Ausflug mitten im Krieg, der ihr nicht zugestanden war. Sie stand auf und zog die Vorhänge zurück. Draußen war der Himmel noch immer grau und der Wind jagte die Wellen vor sich her, die sich tosend am Riff brachen.
    Lilly zog sich an, ohne sich zu duschen, und ging an die Rezeption. „Ich muss dringend telefonieren“, sagte sie zu Ahmet, der sie besorgt ansah. Sie wusste, dass sie heute wie eine andere Frau aussah, und bemühte sich, ihn anzulächeln. Er konnte nichts dafür, dass sie im falschen Land erwacht war.
    Ralf hob sofort den Hörer ab: „Du musst mir helfen, ich will wieder nach Hause. Bitte organisiere mir so rasch wie möglich einen Flug.“ Er hatte, wie in fast allen Bereichen, auch bei einigen Fluglinien Freunde, die der homosexuellen Gemeinde angehörten. Das Schweigen am anderen Ende der Leitung dauerte etwas zu lange, und sie wusste, was es bedeutete. „Guten Morgen!“, erwiderte er, und Lilly erinnerte sich beschämt daran, dass sie wieder einmal mit der Tür ins Haus gefallen war. Sie kannte diese Schwäche von ihr. Seit es in der Redaktion Computer gab, schrieb sie einfach drauflos und fügte am Ende die Einleitung hinzu. Früher musste sie diese Textstücke mühsam oben dazukleben.
    â€žIch werde dir nicht helfen“, sagte ihr bester Freund mit sanfter Stimme, „weil du die ersten Tage durchstehen musst, weil es normal ist, dass du Anpassungsschwierigkeiten hast nach dem Wahnsinn der letzten Monate. Erinnere dich daran, dass der dritte Tag, wenn du Ski läufst, auch immer der härteste ist.“ Jetzt musste Lilly lächeln. Dass Ralf, der Sport hasste, für sie dieses Bild herholte, war die höchste Kunst von Anpassung an sein Gegenüber. „Ich verspreche dir, dass ich alle meine Verbindungen einsetzen werde, wenn es dir in drei Tagen noch nicht besser geht.“
    Lilly kannte diesen Ton. Sie wusste, dass es keinen Sinn hatte, mit ihm zu diskutieren. Drei Tage konnte sie überleben. Sie brauchte nicht einmal ihre Finger dazu, um sie abzuzählen. Sie war froh, Ralfs vertraute Stimme zu hören, und ließ sich alle noch so kleinen Neuigkeiten erzählen, auch wenn sie die Redaktion schon lange nicht mehr wirklich interessierte. Am Abend würde sie mit ihrer Mutter und mit Lea telefonieren, sie hatten ausgemacht, dass sie nur jeden dritten Tag anrufen würde, damit das Kind in einen Alltag mit seiner Großmutter finden konnte.
    Der Tag ging schlecht weiter, alles lief schief. Das Wasser in der Dusche schwankte zwischen kalt und heiß, sie sah die gesprungenen Fliesen am Fußboden und die schmutzigen Fugen hinter dem Waschbecken. Sie spürte, als sie nackt aus dem Bad kam, den Luftzug, der von der undichten Balkontür ungehindert ihr Zimmer betrat und sich durch die Eingangstür

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