Lillys Weg
wieder verabschiedete. Beim Frühstück schmeckten die braunen Bohnen, auf die sie sich gefreut hatte, zu sauer, und die Spiegeleier waren nicht genug durchgebraten. Der Toast war pappig, der FruchtÂsalat schon leicht braun gefärbt und der Kaffee schmeckte, wie eben Nescafé schmeckt, wenn er nicht durch gute Laune verklärt wird. Lilly musste zugeben, dass das alles, bis auf die Bohnen, die sie erst heute gekostet hatte, schon gestern so gewesen war. Aber gestern hatte es sie nicht gestört. Sie wusste im Kopf, dass das Leben, das sie sich erschuf, hauptsächlich eine Konstruktion Âihrer Sichtweise war und dass sie jederzeit die Möglichkeit hatte, es zu verändern. Aber im Augenblick nützte ihr das nichts.
Sie bestellte sich einen starken Beduinenkaffee und überlegte gerade, wie sie dem Tag noch etwas abgewinnen könnte, als ÂAhmet von der Rezeption in den Frühstücksraum kam. âTelefon für Sie!â Er hatte sich ein paar Brocken Deutsch gemerkt, strahlte sie an und bekam das erwartete Lob dafür. Es war Rita, die sie für den nächsten Tag einlud, in ihr Camp zu kommen. Lilly hätte sich nie selber gemeldet. Eine ihrer wenig nützlichen Angewohnheiten war es, sich zu verkriechen, wenn es ihr schlecht ging. Sie wollte sich in ihrer Verfassung niemandem zumuten und bat kaum jemals um Hilfe. Wer ihre Not erkennen wollte, musste ihr Gesicht und ihre Körpersprache gut lesen können, so wie Ralf, Ella und Johanna. In ihrer Kindheit war das manchmal ihre Bregenzerwälder Oma gewesen. Aber sie hatte alle Hände voll mit der Landwirtschaft zu tun und wenig Kapazität frei, um ihre Enkelin genauer zu beobachten. Und so war Lilly im Leben der Erwachsenen, die sie groÃzogen, meistens nur mitgelaufen und hatte sich bemüht, sich in alle Richtungen möglichst pflegeleicht zu zeigen. Irgendwann war ihr dieses Verhalten so vertraut, dass sie es nicht mehr hinterfragte.
Lilly beschloss, ihren Grübeleien ein Ende zu machen, und zog sich winddicht für einen langen Strandspaziergang an. Sie wanderte wieder in die entgegengesetzte Richtung zur Touristenmeile, vorbei an dem charmanten Restaurant von gestern, und gelangte wieder an eine Grenze. Die asphaltierte Uferpromenade hörte abrupt auf, der Strand wurde immer schmutziger, überall lagen Plastikflaschen, Autoreifen und vieles andere, was Menschen achtlos weggeworfen hatten. Die Häuser am Ufer befanden sich in unterschiedlichsten Zuständen. Manche zerfielen schon, andere waren nicht fertig gebaut worden, weil offenbar das Geld ausgegangen war, und ragten als graue Ruinen in den Himmel. Einige trotzten dem deprimierenden Zustand und sahen aus wie reiche Verwandte, die sich in ein Armenviertel verirrt hatten. Kinder spielten mitten im Müll auf leeren Grundstücken, die wie Zahnlücken dazwischen aussahen. Ein kleiner Junge, der kaum älter als drei Jahre war, spazierte mit PlastikÂsandalen allein ganz nahe am Wasser entlang. Er ging an einer Touristin vorbei, die hingebungsvoll ihren surfenden Freund auf dem Meer filmte und wohl kaum bemerkt hätte, wenn der Junge ertrunken wäre. Lilly setzte sich entmutigt auf einen alten, löchrigen Bootsrumpf und beschloss, sich wenigstens als Babysitter nützlich zu machen, auch wenn sie weit und breit keine Eltern sehen konnte, die sie darum bitten könnten. Sie dachte an Lea und Niklas und fühlte sich so elend wie schon lange nicht. Es war gar nicht so einfach, sich ein gutes Leben zu erschaffen. Sollte sie vierzehn Tage über Müllhalden spazieren? Sie tat dem Tourismus Abbitte. Er war oft nicht angemessen und zerstörte ganze Landstriche, aber zumindest hatte er den Effekt, dass es saubere Häuser und StraÃen gab. Der kleine Junge hatte sich inzwischen zu ihr gesetzt und sie spielte mit ihm mit Kieselsteinen. Nach einer Ewigkeit kam ein junger blonder Mann mit Âeinem verschlossenen Gesicht aus einem der zerfallenen Häuser und rief nach dem Kind. Noch ehe der kleine Junge loslief, war der Mann schon wieder verschwunden. Er trug einen Surfanzug und schien sich nicht besonders für den Jungen zu interessieren.
Lilly spazierte weiter am vermüllten Strand entlang und bemerkte, wie sie insgeheim Noten verteilte: âWas für ein Land, was für ein Dreck â¦â In diesem Augenblick sah sie die Muscheln. Sie waren riesengroÃ, ausgefallen geformt und lagen einfach vor ihr. Als ob das Meer ihr
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