Lillys Weg
ihren Augen die Frau eines gesuchten Kriminellen bin. Ich habe mein viertes Bein, das man âgesellschaftlichen Statusâ nennt, verloren. Lilly beobachtete Rita, die die kleine Ziege, als sie zu jammern anfing, weil sie ihr Fläschchen vermisste, wieder auf den Arm nahm und weiter fütterte. Es gab so viele Menschen, die sie unterstützten, seit sie eine âAusgeschlosseneâ war, und sie spürte, dass diese Frau, die so selbstverständlich das kleine Tier versorgte, dazugehörte.
Ibrahim, ihr Mann, kam und brachte eine bunte BeduinenÂdecke, Tee und drei Gläser. Sie setzten sich direkt neben den Ziegenstall, der in der Mitte zwischen dem Beduinencamp und dem Zentrum lag. Hier war alles so einfach. Man trug keine ÂMöbel hin und her, man lieà sich einfach nieder, wo man gerade sein wollte.
âLass uns ins Wadi gehen, es ist ein Platz, der mir und vielen anderen Menschen auf ihrer Reise zu sich selbst geholfen hat.â
Die kleine Schlucht begann direkt hinter dem Zentrum, als ob Rita und Ibrahim hier als Wächter wohnten. Die beiden Frauen wanderten schweigend den bequemen Pfad entlang und Lilly wunderte sich, dass eine der roten, kargen Steinformationen, auf die sie zugingen, aussah wie eine Miniatur der Mittagsspitze im Bregenzerwald. Sie wurde plötzlich ganz ruhig. Es gab eine Verbindung zwischen den Wesen dort und hier.
Rita blieb stehen, als sie bei der Quelle angelangt waren. âWasser ist hier unendlich kostbar. Es flieÃt nicht, es sickert aus der Erde, und wir haben es in diesem Brunnen gefasst. Später werden wir es vielleicht reinigen und trinken können, jetzt überleben unsere Pflanzen damit. Wir experimentieren im Augenblick mit unterschiedlichen Gemüsesorten und Grünfutter für die Ziegen und hoffen, dass das unser Budget verbessert.â
Ein Stück oberhalb der Quelle lag eine blaue Wolldecke. âLass uns einen Augenblick hier sitzenâ, sagte Rita und zeigte neben sich.
Ãgypten, 10. Februar 1989
Ich spüre, dass der Platz mir guttut. Es ist so still. Rita sitzt neben mir und schweigt. Nach einer langen Zeit, die niemand gemessen hat, sehe ich einen durchsichtigen, weiÃen Plastiksack, der wie ein Vogel zwischen den roten Felsen durch den blauen Himmel schwebt: âSo frei können auch wir Menschen seinâ, sagt Rita, und ich höre kein Urteil, dass in diesem Land der Müll sogar durch die Luft fliegt und auf Plätzen landet, die liebevoll gepflegt werden.
Als sie weiterspricht, kann ich meine Tränen nicht mehr zurückhalten. âIch spüre einen groÃen Schmerz rund um dich. Er kommt aus deinem Inneren, und du bist hierhergekommen, um zu verstehen, dass er dein Lehrmeister ist. Wir Menschen glauben immer, dass wir uns entwickeln können, ohne durch diesen Schmerz zu gehen. Das ist ein Irrtum. Alles, was wir tun müssen, ist, ihn willkommen zu heiÃen. Wenn wir uns dagegen wehren, wird unser Leben hart und bitter, aber wenn wir ihn als etwas sehen, was zu unserer Geschichte gehört, weil wir auf einer anderen Ebene Ja dazu gesagt haben, dann bekommt er seinen Sinn. Dann wissen wir, dass er unserer Entwicklung dient, dass jeder Augenblick, in dem wir leben, perfekt ist, so wie er ist.â
Ein Windstoà kommt und weht mir meine langen Haare ins Gesicht, als ob sie meine Tränen trocknen sollten. Ich bin noch nicht bereit dafür, aber es ist gut, dass sie mein Gesicht verbergen. Lea und Niklas sind jetzt ganz nah. Ich sehe ihre kleinen, unschuldigen Gesichter und merke, dass ein Teil meiner Tränen ihnen gilt: âUnd was ist mit meinen Kindern? Das Schicksal ihres Vaters hat ihnen ihre Kindheit gestohlen. Was ist mit ihrem Leid?â Rita lächelt mich an und ich habe plötzlich keine Angst mehr vor ihrer Hellsichtigkeit. âMach dir keine Sorgen um sie. Auch sie haben auf anderen Ebenen Ja gesagt zu ihrer eigenen Geschichte. Es wird sie mitfühlend, weise und stark machen. Ich spüre, dass sie ganz besondere, alte Seelen sind. Und es gibt noch einen Trost: Die Generationen nach uns leiden nicht mehr so stark wie wir. Sie können vieles einfach durchziehen lassen, was uns noch an unsere Grenzen bringt. Es kommt ein Zeitalter auf uns zu, in dem Transformation leichter und schneller geht. Ich werde in diesem Jahr fünfzig und bin viele Jahre umhergeirrt, bis ich hier meinen Platz gefunden habe. Ich habe lange gebraucht, um zu verstehen, dass es immer nur um
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