Lillys Weg
bin zu dünn, aber das ist gerade modern und spricht eher für mich, auch wenn ich nichts dafür tue. AuÃen bin ich offensichtlich fast dieselbe geblieben.
Im Inneren habe ich mit der Lilly, die in Paris-Orly in den Abendflug nach Wien gestiegen ist, nur noch wenig zu tun. Ich spüre eine Tiefe, von der ich noch nicht weiÃ, ob ich sie mag. Es hat mich viel gekostet, die zu sein, die ich jetzt bin. Ich putze mir die Zähne und lege mich ins Bett, obwohl es nach mitteleuropäischer Zeit erst acht Uhr abends ist. Als die Erschöpfung kommt, lasse ich das Meeresrauschen darüberrollen. Aufgeben, abgeben, einfach wieder einmal schlafen â¦
Ich erwache, weil der Sturm an meiner Balkontür rüttelt, kuschle mich in meine Decken und genieÃe das Tosen der Wellen. Wenn das Meer zu mir spricht, fühle ich mich nicht einsam, auch wenn ich meine Familie vermisse. Seit meiner Zeit an dem See, an dem Oskar sich versteckt, hat Wasser eine neue Bedeutung für mich. Es ist, als ob es mich an meine Essenz erinnert, an den Ort in mir, an dem ich wirklich zu Hause bin. Ich greife nach meiner Uhr. Es ist erst sieben. Bis um zehn gibt es Frühstück. Ich sinÂke erleichtert in meine Kissen zurück. Es ist lange her, dass ich Âmeinen Körper gespürt habe. Er liegt zwischen den weiÃen Laken und ist mir unendlich dankbar, dass ich nicht sofort aus dem Bett springe.
Das Meer ist immer noch stürmisch, der Wind treibt den Sand über die Uferpromenade, und der Himmel ist bedeckt. Es stört mich nicht. Von meiner Mutter und meiner GroÃmutter habe ich einen starken Impuls âussë, dâSunnô schinntâ 12 geerbt und bin froh, dass meine Auszeit so langsam beginnt.
Tjalle bittet mich in ihr Haus, als ich pünktlich um elf Uhr bei ihr ankomme. Ihre beiden Enkeltöchter, die mit ihren ÂEltern in Sharm el Sheikh leben, sind da, weil sie Ferien haben, und sprechen mit ihrer GroÃmutter eine Mischung aus Dänisch und Arabisch. Es klingt ganz natürlich und ich wünschte, dass die allgemeine Völkerverständigung auch so einfach wäre.
Es gibt manchmal Plätze, in die ich sofort, ohne etwas zu ändern, einziehen könnte. Das hier ist einer. Die Mischung aus Orient und Europa ist umwerfend. Die bequemen BeduinenÂsofas gehen eine mühelose Allianz mit den eleganten weiÃen Möbeln ein. Alles ist einfach und edel. Tjalle, die in DäneÂ-mark, der Schweiz und Frankreich gelebt hat, serviert Tee,
und ich frage mich, wie alt sie ist. Ihre Bewegungen und ihre Mimik sind jung, gleichzeitig tragen ihr Gesicht und ihr Körper ÂSpuÂren von Leben, das schon einige Jahrzehnte dauern muss. Sie spürt meine Frage und sagt: âIch bin fünfundsiebzig Jahre alt und lebe seit fünfzehn Jahren in Dahab.â Als ich sie mit offenem Mund anstarre, weil ich mich um mehr als ein Jahrzehnt verschätzt habe, lacht sie: âHier wird man als Europäerin vorzeitig alt oder man bleibt sehr jung. Ganz, wie man will.â
Der weiÃe Jeep ist sehr gepflegt, aber der Sitzgurt klemmt, und ich kann mich nicht anschnallen. Tjalle lacht: âEr ist auch schon alt, aber wir nehmen es hier nicht so genau, ich fahre sowieso langsam, weil die StraÃen schlecht sind.â
Die roten Berge des Sinai, die mich gestern bei meiner Ankunft mit ihrer kargen Nacktheit deprimiert haben, leuchten heute wieder genauso magisch wie damals, als ich noch eine andere war. Es erleichtert mich.
Das Haus, das Rita mit ihrem Mann Ibrahim, einem Beduinen, erbaut hat, steht ein paar Hundert Meter vom Beduinencamp entfernt, trägt zwei kleine und eine groÃe Kuppel und fügt sich harmonisch in die Landschaft ein. Rita empfängt uns mit einer Herzlichkeit, die kaum einen Unterschied macht zwischen ihrer Freundin und mir. Sie schaut mir in die Augen, so als ob sie nach Erkennungszeichen sucht, dann umarmt sie auch mich innig und bittet uns herein.
Unter der ersten kleinen Kuppel gibt es eine einfache Küche, in der sie uns Kaffee kocht, zu dem sie Datteln serviert, die Ibrahim in Honig getränkt und mit Mandeln gefüllt hat. Gleich daneben findet sich unter der zweiten Kuppel ein modernes, praktisches Badezimmer. Rita sagt fast verlegen: âIch brauche diesen Luxus, und warum sollten wir nicht einige Errungenschaften der modernen Zivilisation nützen?â Der Raum unter der groÃen Kuppel ist traditionell mit bunten Teppichen und
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