Lillys Weg
ich so viele Jahre zum Teil unschuldige Bürger abhören musste, die den Mut zum zivilen Ungehorsam hatten.â Heute demonstriert Rudi mit. Er würde sich von niemandem mehr seinen âaufrechten Gangâ verbieten lassen.
Als Chris kommt und uns empfiehlt, unbedingt schwarze Spaghetti, die mit Tintenfisch gemacht werden, zu bestellen, sitze ich still da und genieÃe, dass Ella und Chris sich angeregt unterÂhalten. Ich bin müde von diesem aufregenden Tag und bade in der leichten Konversation der beiden, die in meinem Leben so selten geworden ist. Chris schenkt mir noch ein Glas Soave ein, obwohl ich protestiere. âDamit du im Zug besser schlafen kannst.â Er hasst Züge und findet sie so schmuddelig, dass er einen Ausschlag davon bekommt. Das ist auch der Grund, warum Ralf den VW-Bus gekauft hat. Chris wird unsere Tourenski mitnehmen, damit Ella nicht in Verdacht gerät, falls jemand auf die Idee kommt, sie zu kontrollieren. Er lehnt mit gespielter Entrüstung die Karte zum Heilerinnenkongress ab, die sie ihm schenken will: âIch leide schon genug darunter, dass Ralf mir ständig von unserer karmischen Verbindung erzählt und mich zum Buddhismus bekehren möchte.â
Oskar und Niklas sind in Kiel. Noch eine Nacht, dann sind wir wieder zusammen. Wir werden in der Stadt am Meer Ostern feiern. Sein Anwalt hat ihm dringend empfohlen, in den nächsten Wochen dort zu leben: âWir können es uns nicht leisten, dass Sie in letzter Sekunde in Bayern geschnappt werden. Wenn es in Kiel passiert, kann ich wenigstens argumentieren, dass Sie kurz davor waren, sich zu stellen.â Kein Gericht in Deutschland war bisher bereit, die âheiÃe Kisteâ anzunehmen, wie er es nennt. âSo wie es aussieht, werden wir sie zwingen müssen, indem wir uns stellen.â Ich weià nicht, ob das Wir, von dem er spricht, mich beruhigen oder irritieren soll. Wenn es darum geht, wer ins Gefängnis muss, wenn der Plan schiefgeht, gibt es kein Wir mehr.
Ich bin überdreht nach diesem langen Tag und dem Abschied von unseren Freunden und liege noch lange wach. Ich mag Nachtzüge nicht. Sie haben alle den gleichen Geruch. Eine Mischung aus Metall und Toiletten, die von zu vielen Menschen benützt werden. Lea ist zu mir ins Bett gekrabbelt und tritt mich im Schlaf. Ich bringe es nicht übers Herz, sie in ihr eigenes Bett zu tragen, sie braucht meine Wärme. Ich kann es kaum glauben, dass es das letzte Mal sein soll, dass wir uns verstecken müssen. Spätestens im Mai, sagt der Anwalt, der auch schon bekannte Politiker verteidigt hat, werden wir ein Gericht haben, das Oskar anhört. Ich spüre meine grundsätzliche Müdigkeit wieder. Es wird Zeit, dass mein anstrengendes Leben leichter wird.
Am Morgen spritze ich mir im Waschraum viel kaltes Wasser ins Gesicht. Oskar soll nicht sofort sehen, wie erschöpft ich bin. Ich habe ihm nichts von meinem Zusammenbruch erzählt.
Endlich in Kiel. Mein schöner Mann mit grauer Stoppelglatze kommt auf uns zu. Die Fotos auf den Fahndungsbildern zeigen ihn mit seinem gelockten längeren Haar, das damals noch braun war. Er könnte wahrscheinlich unerkannt durch die Wiener Innenstadt spazieren. Lea jubelt, reiÃt sich von meiner Hand los und rennt auf ihn zu. Endlich wieder der Papa. Niklas stürmt in meine Arme, ich halte ihn so lange fest, dass er sich ungeduldig aus meinen Armen windet, um seine Schwester zu begrüÃen.
Kiel im Sonntagskleid. Die Sonne glitzert auf dem Wasser, es ist kalt, aber die Luft riecht gut. Das Taxi fährt an der Förde entlang und ich versuche, so viel wie möglich aufzunehmen. Hier ist Oskars neuer Zufluchtsort. Der Platz, an dem er viel Zeit verbringen wird, bis sein Fall geklärt ist.
Die Anwältin, die den berühmten Verteidiger unterstützen wird, hat uns im Olympiadorf ein Quartier besorgt: âDort sind sie am besten geschützt, es gibt keine Nachbarn, die Sie beobachten werden, hier kommen nur Touristen auf Urlaub her.â Das künstliche Dorf ist eine dieser typischen ScheuÃlichkeiten, wie sie Olympische Spiele hinterlassen. Beton, so weit das Auge reicht. Trotzdem hat es seinen Reiz. Vor der Tür Boote, Strand, Menschen in Freizeitkleidung. Unser neues Heim sieht aus wie alle Ferienappartements. Terrasse, Bad, praktische Teppichböden, die den Schmutz gezielt in gedeckten Tönen verbergen, banale Möbel aus billigem Holz, eine
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