Lillys Weg
Spielzeug aussah, ergänzte. Wenn jemand abreiste, radierte er die Zeile wieder aus. Johanna, deren Kinder vorgezogene Osterferien in den USA bei ihrem Vater verbrachten, genoss das Detektivspiel und ihr ungestörtes Liebesleben mit Rudi: âIch bin in meinem ganzen Leben noch nicht mit dem Gesetz in Konflikt geraten und werde bei jeder Lüge sofort rot. Ich bin fassungslos, was ich für kriminelle Energien an mir entdecke.â Nebenbei lernte sie mit Tourenski zu gehen und die anderen drei, die längst fit darin waren, schlossen sich an, wenn sie mit ihrem Skilehrer übte.
Nach einigen Tagen sagte Rudi, der âdie Lausâ noch im-
mer nicht identifiziert hatte: âWir müssen überprüfen, ob der Bursche überhaupt Ski läuft.â Und Johanna fragte skeptisch: âWer sagt, dass es ein Mann ist, der uns beobachtet?â Rudis Antwort kam postwendend: âWeil es gar keine weiblichen Staatspolizistinnen gibt. Frauen wird so ein Job gar nicht erst zugetraut.â
Es war kurz vor vier Uhr, als Lilly und Rudi die letzte Auffahrt zum Madloch nahmen. Das Madloch eignete sich am besten für eine Observierung, weil es eine der längsten Abfahrten war, die in Zug, einem kleinen Ort in der Nähe von Lech, endete. Sie blieben oben an der Bergstation eine Weile stehen und schauten ins Tal. Es war schon kühl, und sie wussten, dass schwierige Bedingungen auf sie warteten. Die meisten Skiläufer hatten heute schon zu Mittag aufgehört, weil sie Angst vor dem schweren Schnee hatten. Die beiden waren exzellente Skifahrer. Rudi hatte seinen Militärdienst bei den Gebirgsjägern absolviert und Lilly im Bregenzerwald Skilaufen gelernt, noch ehe sie lesen konnte. Johanna, die sich vom anstrengenden Tourengehen erholen wollte, war bei Lea geblieben.
Sie fuhren konzentriert durch tiefe âBadewannenâ mit harten Rändern, schwangen über steile Hänge, die von Skikanten so abgeschabt worden waren, dass das Gras hervorschaute, nahmen Abkürzungen durch harschigen Schnee und blieben immer wieder stehen. Sie waren die Einzigen auf der Piste. Niemand war hinter ihnen vom Lift gestiegen, niemand war ihnen gefolgt. Lilly fühlte sich sicher, die Berge waren ihre Welt. Als sie verschwitzt und mit geröteten Gesichtern im Tal ihre Ski abschnallten, sagte Rudi zufrieden: âSie unterschätzen dich, sie trauen dir nicht zu, dass du auf Skiern abhaust. Viel Aufregung um nichts. Kein Polizist weit und breit.â Johanna und Lea warteten schon im Gasthaus Rote Wand auf sie. Es gab die berühmten Kässpätzle und die Gewissheit, dass ihr Plan durchführbar war.
Nichts wies darauf hin, dass es ein ungewöhnlicher Tag werden sollte. Lilly stand inmitten der kleinen Gruppe, die sie ihre GroÃfamilie nannte. Es war neun Uhr und alle hatten ihre Tourenski dabei. Sonst nichts. Selbst der Rucksack mit Broten, der sonst zu Johannas Grundausstattung gehörte, âweil man nie wissen kann, was passiertâ, war heute im Hotel geblieben. âWir dürfen unserem Polizisten, der wahrscheinlich ein Dauerabo auf einem der Liegestühle vor unserem Hotel hat, keinen Grund zum Nachdenken gebenâ, hatte Rudi bestimmt. Er war der Kommandant der Operation und kannte die Strecke wie seine Westentasche. Er hatte sie schon zu Hause auf seinen Karten markiert und war sie in den letzten Tagen gefahren. Sein fotografisches Gedächtnis hatte jede Abzweigung gespeichert.
Ihr Ziel war das Hotel am Körbersee im Hochtannberggebiet, das zum Bregenzerwald gehörte. Sie fuhren den Weibermahd-Lift hinauf und über die Auenfelder, an der Mohnenfluh und der Juppenspitze vorbei durch atemberaubende Landschaften, die Lilly von Wanderungen mit ihrer Mutter und Ella gut kannte. Die weiÃen Gipfel schauten wie Wächter auf sie herunter, und gleichzeitig fühlte sie sich so klein. Ein Staubkorn im Universum dieser mächtigen Berge. Johanna kämpfte sich wacker und am Ende schon mit zittrigen Knien durch das Abenteuer. Lea fuhr Tourenski wie ein Nachwuchstalent. Sie tauchte durch die tiefsten Schneemulden, und wenn sie stürzte, stand sie in der nächsten Sekunde wieder auf. Die letzte Etappe ging bergauf bis zu dem Hotel, das einzigartig an einem kleinen See lag, der jetzt zugefroren war. Für Johanna war dieser letzte Teil eine schwere Prüfung und sie verfluchte Rudi, der ihr feixend zusah, wie sie keuchte: âWenigstens etwas, das ich besser
Weitere Kostenlose Bücher