Lillys Weg
Hausaltar mit Kerzen entgegen. Anke folgte Lillys Blick: âIch mag die tägliche Erinnerung an sie. Die Bilder sind von Amma gesegnet und tragen ihre Energie.â
Das wenige Gepäck war schnell geholt. Und kurze Zeit später liefen die drei Kinder durch den Garten und suchten Osternester, die von den Erwachsenen für sie versteckt worden waren. Zwei Familien, die bis vor ein paar Stunden ihre eigenen Handlungsstränge verfolgt hatten, wurden durch Ereignisse, die ganz woanders, in einer österreichischen Zeitungsredaktion, stattgefunden hatten, an einen gemeinsamen Tisch geführt. Sie hatten in der Küche alle ihre Vorräte für das Osterfest auf Platten dekoriert und staunten über die neue Fülle. Sie aÃen von buntem Geschirr aus selbst getöpfertem Ton inmitten des verwilderten Gartens und hörten die Ostsee rauschen. Anke hatte den Sitzplatz mit einem dichten Bretterzaun vor fremden Blicken geschützt, hier würde Oskar sicher sein. Lilly beobachtete die Frau mit dem freien Blick und den natürlichen Bewegungen und spürte für einen Augenblick ihr altes Misstrauen. War er an ihr als Frau interessiert? Sie packte den hässlichen Gedanken sofort wieder ein und schämte sich dafür. Seine Engel auf Erden waren eben überwiegend weiblich.
Niklas fühlte sich sofort wohl in diesem Haus, in dem es ein riesengroÃes Kinderzimmer gab und einen Garten, in dem er auf Bäume klettern konnte. Es war klar, dass er bis zum Herbst bei seinem Vater bleiben durfte. Dann würde auch er in Wien zur Schule gehen müssen. Das war jedenfalls Lillys Wunsch, doch sie wusste nicht, ob Oskar und ihr Sohn ihn teilten. Sie hatten bisher vermieden, darüber zu sprechen, weil es ein wunder Punkt in ihrer Beziehung war. Lilly wollte das Kind zurück, und Oskar konnte sich nicht mehr vorstellen, ohne Niklas zu leben. Ihr Sohn nahm die Dinge so, wie sie waren. Er lebte im Augenblick und freute sich auf seinen Spielgefährten, der einen Montessori-Kindergarten besuchte. âKann ich mitgehen?â, fragte er neugierig. Er hatte längst vergessen, dass auch er sich verstecken musste. âNoch nichtâ, sagte sein Vater, âaber bald.â Niemand wusste genau, wann bald war.
Der Anwalt hatte bei der Kieler Staatsanwaltschaft angekündigt, dass sich sein Mandant stellen werde, und jetzt wurden im Hintergrund politische Fäden gezogen, auf die Oskar keinen Einfluss hatte. Die deutschen Behörden überlegten, wie sie den Fall abwehren konnten, und waren in Kontakt mit der österreichischen Justiz.
Es war ein Abschied, der Lilly wieder an den Schwebebalken erinnerte, auf dem sie balancierte. Auf der einen Seite hatte sie Angst, dass die Kieler Behörden Oskar sofort in U-Haft nehmen könnten, auf der anderen Seite vertraute sie. In wenigen Wochen würde ein neues, gutes Leben beginnen. Ein Leben, in dem das Versteckspiel zu Ende war. Oskar würde wieder ein ehrenwerter Mann sein, für den die Unschuldsvermutung gilt.
Ralf, mit dem Lilly ihren ersten Abend in Wien in der Servitengasse verbrachte, war weniger optimistisch: âDu bist eine Träumerin, Lilly. Sein Ruf ist ruiniert, und das wird sich nicht ändern, solange er nicht freigesprochen wird.â Er sagte nicht dazu, dass er an einen Freispruch nicht mehr glaubte. Es gab viele Indizien, dass das Schiff tatsächlich gesprengt worden war, und jemand musste dafür den Kopf hinhalten, auch wenn es vielleicht der falsche war.
Der Frühling kam am Semmering immer etwas später als in Wien. Die Schneeglöckchen hatten noch kurze Hälse und drückten ihre Köpfe mühsam durch den Rest des nicht mehr ganz weiÃen Schneeteppichs, der noch immer in Katharinas Garten lag. Lilly saà in eine Decke gehüllt mit ihr in der Sonne und genoss das Zwitschern der Vögel. Die beiden Frauen sprachen nicht und lieÃen zu, dass die Dankbarkeit den Raum zwischen ihnen ausfüllte.
Lilly war überglücklich, weil ein einziger kleiner Satz ihr ÂLeben verändert hatte: âDer Bundesgerichtshof legt per ÂBeschluss die Zuständigkeit des Landesgerichts Kiel fest.â Oskar hatte sie heute angerufen. Einfach so zu Hause in Wien, ohne Versteckspiel. Er war kein âherrenloser Hundâ mehr, âder durch Deutschland auf der Suche nach einer HundeÂhütte streuntâ, wie eine der Zeitungen sehr bildlich berichtet hatte.
âIch bin auf freiem
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