Lillys Weg
FuÃâ, hatte er gesagt. Lilly war zutiefst erleichtert. Doch es stimmte nicht, sein Fuà war nicht wirklich frei. Der Staatsanwalt hatte ihm Fesseln angelegt und konnte ihm die geliehene Freiheit jederzeit wieder entziehen. Er hatte die Auflage, das Land nicht zu verlassen, und musste jede Woche seinen Aufenthaltsort bekannt geben. Aber alles war besser als das unwürdige Versteckspiel. Seit heute lebte sie wieder in einer Welt, in der sie sichtbar sein durfte.
Katharina war ebenfalls dankbar. Oskar war nicht verhaftet worden. Das machte ihr Hoffnung für Paolo. Vielleicht konnte auch er zurückkommen?
Nicht sofort. Ãsterreich war nicht Deutschland. Hier gab es viel zu viele Begehrlichkeiten der Politik. Ob eine Suppe zu dünn oder dick genug war, bestimmte nicht nur der Staatsanwalt. Aber zumindest konnte Oskar in Deutschland ein faires Verfahren erwarten, von dem Paolo profitieren würde. Als zwei Steinadler über den Bergen kreisten, sagte Lilly, die an Symbole glaubte: âSie werden beide frei sein.â Katharina legte ihre Hand auf die Hand der jüngeren Frau und sagte: âGut, dass du so optimistisch bist, das kann ich von dir lernen.â
âUnd ich lerne von dir, wie man in jeder Lebenslage Hal-Âtung bewahrtâ, antwortete Lilly und hatte plötzlich wieder ein schlechtes Gewissen, weil sie mit Paolo über Monate geschlafen hatte. Sie zögerte einen Augenblick und entschied sich dann für die Wahrheit: âIch schäme mich heute, dass ich keine Sekunde daran gedacht habe, wie es dir geht, wenn ich mit deinem Mann eine Affäre habe. Ich war so gedankenlos, so egoistisch â¦â Katharina lächelte: âWenn nicht du, dann wäre es eine andere gewesen. Ich mache mir darüber keine Illusion. Und wo immer Paolo jetzt ist, eines weià ich mit Sicherheit: Er hat dort längst eine andere Frau. Vorübergehend.â
âUnd woher weiÃt du, dass er zu dir zurückkommt?â
âWeil es immer so war. Weil er ein kleiner Junge ist, der sich im Dunkeln fürchtet. Du kennst den starken Mann, der alle Fäden zieht. Bei mir darf er verletzlich und weich sein und seinen Kopf in meinen Schoà legen.â
Als Lilly spät am Abend vom Semmering zurück nach Wien fuhr, lag eine neue Zeit vor ihr und sie sagte fast trotzig: âAlles wird gut. Ich weià es.â Als sie in der Servitengasse ankam, schickte sie Tilde nach Hause und saà noch lange am Bett ihrer Tochter.
7. Mai 1989
Ich werde endlich wieder ein normales Leben führen. Oskar kann nicht mit uns in Ãsterreich leben, aber wir mit ihm in Deutschland. Jedenfalls manchmal. Lea muss zur Schule und ich kann Ralf mit der Zeitschrift nicht länger im Stich lassen. Aber es gibt viele Wochenenden und eine tolerante Direktorin an der Schule.
Ich bitte sie zu einem Abendessen zu uns. Wir werden reden, wenn Lea im Bett ist. Eigentlich darf sie das nicht. Sie soll keine Handlungen setzen, die Eltern von Kindern bevorzugen. Aber es spielt keine Rolle mehr, sie hat uns sowieso schon viel mehr geholfen als jedem anderen an dieser Schule.
Ich bemerke, dass sie älter geworden ist. Ihre Haare sind grau und sie hinkt ein bisschen, weil ihr bei Wetterumschwüngen die Hüften wehtun. Aber ihre Augen sind jung und leÂbendig: âIch habe immer alles gewusst und ich bewundere Sie dafür, wie Sie Ihre Kinder durch diese Zeit begleitet haben.â Sie kannte auch Niklas, mit dem sie nach der Kindergruppe häufig Lea abgeholt hatte. âWissen Sie, das ist nicht selbstverständlich. Ich habe in meinem Leben schon so oft gesehen, dass sich Mütter wegen viel kleineren Anschuldigungen von ihren Männern abwenden und ihnen die Kinder entziehen. Lea und Niklas sind stark geworden durch diese Zeit, sie wurden nicht gebrochen.â Mir kommen die Tränen und die Direktorin nimmt mich in den Arm: âIch könnte Ihre Mutter sein, weinen Sie ruhig, das wird Ihnen guttun.â
Ich habe ihr so viele gefälschte Krankmeldungen von Lea gebracht, die letzte vor Ostern, dass ich jetzt auch noch aus Dankbarkeit weiter weine. Die Direktorin weiÃ, dass Lea bei ihrem Vater war, wenn sie nicht in der Schule erschienen ist. Wir haben uns darüber nur mit Blickkontakt ausgetauscht. âIch wollte Sie nicht zur offiziellen Mitwisserin machenâ, murmle ich jetzt in ihre raue Tweedjacke hinein und höre, wie sie ganz nah an meinem Ohr sanft
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