Lillys Weg
so.
22. Dezember 1989
Das kleine Blockhaus am bayerischen See ist wieder weihnachtlich beleuchtet. Lea, Niklas und ich sind ganz leise, wir wollen Oskar überraschen. Durch die Scheiben sehen wir ihn am Tisch sitzen. Er hat einen groÃen Batzen Teig vor sich, den er zu dünnen Würsten ausrollt, die er zu Vanillekipferln biegt und auf ein gefettetes Blech legt. In einer Ecke steht schon der geschmückte Baum. Ich möchte am liebsten noch eine Weile zusehen, einfach nur glücklich sein, dass er so entspannt wirkt. Niklas zupft mich am Ãrmel. Er wird ungeduldig. Ich nicke und nehme unsere Reisetasche wieder in die Hand. Doch als wir um die Hausecke biegen und auf die Eingangstür zugehen, höre ich plötzlich ihre Stimme. Sie ist schwerhörig und schreit, ohne es zu merken: âWann kommt nun endlich deine Frau, ich möchte schlafen gehen!â Ich sehe sie durchs Fenster. Clarissa kommt aus dem Badezimmer und hat bereits ihren Pyjama an. Sie ist fünfundachtzig Jahre alt und sieht mit ihrem weiÃen, kurz geschnittenen Haar, obwohl sie klein und zart ist, selbst im Schlafanzug beeindruckend aus.
Meine Freude ist mit einem Schlag weg. Warum hat Oskar mir nicht gesagt, dass seine Mutter schon heute kommt? Ich wollte wenigstens noch einen Tag mit ihm und den Kindern alleine sein. Clarissa mag mich noch immer nicht. Es ist nichts Persönliches. Das weià ich inzwischen. Sie hat alle Frauen in Oskars Leben gehasst, solange sie mit ihm zusammen waren, und sieht mich als Konkurrentin um seine kostbare Zeit.
Die Nacht mit Oskar gehört mir. Nicht ganz, denn im unteren Stockbett schlafen die Kinder. Clarissa besetzt unser kleines Schlafzimmer, man kann ihr nicht zumuten, in Gesellschaft zu ruhen, sie ist zu empfindlich.
Der Morgen ist klar und schön, Oskar und ich machen alleine einen groÃen Spaziergang, Clarissa spielt mit den Kindern. Sie liebt ihre Enkel und wird selber wieder zum Kind, wenn sie im Skianzug mit ihnen im Iglu sitzt, das Lea und Niklas bei ihrem letzten Besuch am See gebaut haben. Ich mag ihr weiches, zärtliches Gesicht, wenn sie vergisst, dass sie um ihren Sohn kämpfen muss.
Am Abend sitzen wir am Tisch, Oskar hat für uns gekocht, und Clarissa hat ihre Zählmaschine eingeschaltet. Sie scheint eine innere Buchhaltung zu haben und weià genau, wie viele Wörter ihr Sohn mit ihr gewechselt hat und wie viel mit mir: âOskar, du sprichst ständig nur mit deiner Frauâ, rügt sie ihn, und er lächelt gequält. Es entspricht nicht seinem Charakter, klare Standpunkte zu beziehen.
Die Stimmung ist angespannt. Alle bemühen sich redlich, aber ich grolle Oskar, dass er seiner Mutter erlaubt hat, schon vor dem Fest anzureisen. Sie grollt mir, dass es mich überhaupt gibt, und Oskar bemüht sich, den âSpagat zwischen seinen beiden Frauenâ möglichst elegant zu machen. Ich mag sein Bild nicht. Clarissa ist nicht seine Frau. Sie ist seine Mutter, auch wenn sie sich nicht so benimmt. Die Kinder gehen mit den Spannungen auf ihre eigene Weise um. Lea wirft das Weinglas ihrer GroÃmutter um, die das mit einem bissigen âtypisch Moosbruggerâ quittiert, und Niklas steht sofort nach dem Essen vom Tisch auf und spielt Betthüpfen. Sie sieht mich an und runzelt unwillig die Stirn. Alles, was ihr nicht gefällt an ihren Enkeln, wird mir zugeordnet.
Am nächsten Tag erinnert sich Clarissa offenbar daran, dass es âHeiliger Abendâ heiÃt. Sie macht die besten Forellen der Welt und ist als Herrscherin über das traditionelle Weihnachtsmenü zunächst etwas umgänglicher. Ich schäle Kartoffeln, lächle Oskar zu, der neben mir Vorspeisen auf einem Teller anrichtet, und unsere Augen sagen alles, was wir uns nicht sagen können, weil seine Mutter jedes unserer Worte eifersüchtig auf die Goldwaage legt.
Dann ziehen wir uns um, Clarissa läutet ein silbernes Glöckchen, das sie jedes Jahr mitbringt, und wir singen. Ich habe die Gewohnheit, vor dem Baum zu singen, aus meinem Elternhaus mitgebracht, und Oskar, mit seiner wunderschönen Stimme, ist mir, wie bei vielen Ritualen, gerne gefolgt. Clarissa singt nicht mit. Mir ist es recht. Ihre harte Stimme tut mir weh. Beim anschlieÃenden Abendessen sagt sie bissig: âHat dir eigentlich schon einmal jemand gesagt, dass du mit dem ganzen Kopf zitterst, wenn du singst?â Sie findet immer wieder neue Wege, um mich zu kritisieren. Als Lea
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