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Lillys Weg

Lillys Weg

Titel: Lillys Weg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Renate E. Daimler
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fuhr bei der nächsten Telefonzelle rechts heran und holte ihr kleines, ledernes Telefonbuch aus der Handtasche. Als sie die helle Stimme hörte, war jede höfliche Floskel überflüssig. „Ich bin Lilly aus Wien, und ich bin in Not, kann ich heute Nachmittag vorbeikommen?“
    Oskar saß wieder in dem kleinen Raum mit den vergitterten Fenstern. Es war ein anderer Beamter da, der Lilly neugierig musterte und sich gleichzeitig bemühte, dezent wegzuschauen. Lilly fragte sich, ob sie sich je daran gewöhnen konnte, dass ­jemand sie beobachtete, während sie sich bemühte, ihr Herz zu öffnen. Konnte man es wirklich erreichen, dass die Augen der Bewacher hinter einer imaginären Wand verschwanden? Sie wünschte sich, sie hätte von Ella mehr über Magie gelernt. Sie spürte die Energie des Beamten, dem das Eindringen in ihre Intimität unangenehm war, und hielt sich an Oskars Gesicht fest, als ob es ihr helfen könnte, das zweite Gesicht im Raum auszublenden.
    Jetzt erst bemerkte sie, dass die Furchen in seinem Gesicht noch tiefer als früher waren und seine Augen ihren Glanz ver­loren hatten. Seine Stimme klang gepresst, und wenn er schwieg, sah sie, wie sich sein Kiefer unter der Spannung bewegte. Sie durften einander umarmen, das war erlaubt. Aber auch heute spürte Lilly die gegenseitige Schutzmauer, die sie vor dem Zusammenbruch schützte. Sie rettete sich in praktische Details und sprach mit ihm über das Konto, das sie für ihn in der Zahlstelle eröffnen würde, damit er sich im Gefängnis Dinge des Alltags kaufen konnte. Als sie ging, war ihr Zettel voll mit Aufträgen, die Gott sei Dank einige Zeit in Anspruch nehmen würden: Joggingschuhe für den Hofgang, ein Wasserkocher, ein Pyjama, ein bestimmtes Rasierwasser, Kerzen, Kräutertee.
    Eine Stunde später saß Lilly wieder in ihrem Auto und versuchte das Zittern ihrer Hände in den Griff zu bekommen. Dann holte sie den Stadtplan von Kiel, den sie im Hotel be­kommen hatte, aus dem Handschuhfach und suchte die Straße, in der Hilde Klar lebte. Es war eine Fügung, dass der Hasseldieksdammer Weg nur wenige Häuserblocks vom Gefängnis entfernt lag.
    Als sie eingeparkt hatte und vor der Haustür stand, sah sie links einen Blumenladen. Sie stand vor den vielen Töpfen, in denen schon die ersten Tulpen, Narzissen und Himmelschlüssel auf hungrige Gärten warteten, und konnte sich nicht entscheiden. Sie dachte an Hilde. Sie hatte blonde, sorgfältig frisierte, fast kinnlange Haare und blaue Augen, die jeden, der ihr begegnete, freundlich, aber ungeniert musterten. Sie war so groß wie sie, was ungewöhnlich war, und kleidete sich in einer Mischung aus sportlich und elegant.
    Plötzlich kamen ihr Zweifel. Sie sehnte sich nach Hilfe, und gleichzeitig war ihre Haut so dünn, dass sie Angst davor hatte. Lilly stellte den Topf mit den Schneeglöckchen wieder auf den Boden zu den anderen. Doch dann hörte sie plötzlich eine innere Stimme. Sie war sanft, aber bestimmt: „Du sollst ihr Blumen bringen.“ Lilly betrat den kleinen Blumenladen erneut und schaute sich um. Sie spürte, dass es ein ganz bestimmter Strauß sein musste, und versuchte sich ganz leer zu machen, damit ihre Hand der Fügung folgen konnte. Sie vertraute diesen Fugen inzwischen, die Raum schafften für eine höhere Ordnung. Es dauerte eine Weile, aber dann war es ganz klar. Sie griff nach gelben Tulpen. Das passte zu Hilde.
    Sie öffnete die Wohnungstüre, und ihr Lachen perlte durchs Stiegenhaus, sodass jemand einen Stock tiefer neugierig die Tür öffnete.
    â€žWie unglaublich, dass du mir genau gelbe Tulpen bringst. Ich habe mir gerade überlegt, ob ich es noch schaffe, welche zu holen, bevor du kommst.“ Hilde winkte Lilly herein, führte sie in die Küche und öffnete die kleine Mülltonne unter dem Abwasch: „Ich habe die alten Blumen soeben entsorgt, und jetzt lass dich umarmen.“
    Lillys Körper entspannte sich. „Richtig gelandet“, sagte die Stimme in ihr, und sie nickte dankbar. Hilde kam ohne Umschweife zur Sache und deutete auf ihr Sofa. „Jetzt trinken wir erst mal eine schöne Tasse Kaffee, und dann erzählst du mir, was dich nach Kiel geführt hat.“
    Bis sie ihren Kaffee ausgetrunken hatte, schaffte es Lilly noch, ihre Gefühle zu unterdrücken, und erzählte in knappen Worten ihr Schicksal. Doch

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